Unternehmen Reißverschluss 2
Mit dem Fahrrad entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze
Teil 2: Vom Harz bis zum Dreiländereck Bayern-Sachsen-Böhmen
Es ist eine schlimme Hinterlassenschaft des erloschenen Arbeiter- und Bauernstaates. Sie misst etwa siebzig mal zweihundertachtzig Zentimeter, ist aus Beton und lässt sich längs in Doppelreihen oder quer verbauen. Es sind diese Gittersteine, die das DDR Regime zu Abertausenden in den Boden versenken ließ, damit die Grenztruppen eine lückenlose Überwachung sicherstellen könnten. Nur Fahrradfahren kann man auf diesen buckligen Pisten nicht wirklich. Die Schläge werden von den Reifen ungefiltert bis ins Knochenmark übertragen. Aber auch zu Fuß sind diese Wege eine Herausforderung. Viele der Platten sind abgesackt, teilweise überwachsen und die Zwischenräume ausgewaschen. Dabei entstehen tückische Stolperfallen, die eine volle Konzentration erfordern. Wann immer ich die Landschaft und insbesondere die ungezügelte Natur im Grünen Band genießen möchte, muss ich stehenbleiben. Ich bin unterwegs auf dem zweiten Teil meiner Tour entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze.
Der Platzwart auf dem Campingplatz in Hohengeiß schaut mich ein wenig skeptisch an. Es hat in der Nacht geschneit und die Temperaturen sind auf unter Null gefallen. Völlig normal für den Harz – selbst im Mai. Aber für eine Radtour durch den Südharz nicht die optimalen Bedingungen, findet er. Mich erinnert das ein wenig an Tim Moores satirische Reisebeschreibung „Mit dem Klapprad in die Kälte“. Als er im finnischen Winter seine Tour entlang des Iron Curtain Trail beginnen will, kommentiert dies der Hotelwirt mit den Worten: „Sommer gut für Fahrrad – jetzt nicht gut!“
Ganz so schlimm ist es dann doch nicht. Die Sonne zwängt sich durch vereinzelte Wolkenlücken hindurch und wärmt die wenigen freien Flächen. Im Schatten wird es jedoch augenblicklich wieder frostig. Mein primäres Problem sind aber nicht Eis und Schnee sondern mal wieder die Betonplatten der Kolonnenwege. So manche historische Römerstraße lässt sich besser befahren als diese, in großer Eile hingeworfenen Plattenwege. Wie mag sich seinerzeit wohl eine Dienstfahrt mit dem Trabant-Kübelwagen der Grenztruppen angefühlt haben? Aber, wer es heute authentisch haben will, der muss eben leiden. Für die weniger Leidensbereiten gäbe es, ein wenig abseits der Grenze, angenehmere Wege – aber wer will das schon.
Den Brocken im Rücken geht es in holpriger Fahrt rasant bergab. Am zweithöchsten Harzer Berg, dem Wurmberg, vorbei erreiche ich bald die Verbindungsstraße zwischen dem niedersächsischen Braunlage und dem sachsen-anhaltinischen Elbingerode. Auf Höhe der Bremke, einem früheren Grenzbach, erinnert ein Gedenkstein an die Grenzöffnung vor dreißig Jahren. Mittlerweile ist ein beißend kalter Wind aufgekommen und ich nehme dankbar den Schutz des dichten Waldes an. Es geht zügig voran. Der Grenzerweg hat hier einen halbwegs fahrbaren Mittelstreifen. Ich hoffe, dass die Richtung stimmt, denn Kolonnenwege sind meist unvollständig kartographiert. Erst als ich auf die „Warme Bode“ stoße, weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg Richtung Sorge bin.
Die Bewohner des kleinen Ortes haben durch dessen grenznahe Lage in besonderem Maße gelitten. Alle sogenannten „unzuverlässigen Personen“ wurden zwangsweise umgesiedelt. Und unzuverlässig, das waren die meisten. Im nahegelegenen Freiland-Grenzmuseum führt ein Kolonnenweg den Besucher an einer vollständig erhaltenen Grenzanlage entlang. Die Sperrzäune mit Selbstschussanlagen, Minenfelder, Erdbunker und Beobachtungstürme vermitteln einen bedrückend realistischen Eindruck von der Unüberwindbarkeit dieser Grenze.
Kurz vor Walkenried verlässt der Harzer Grenzweg schließlich den dicht bewaldeten Südharz. Ein Halt in der niedersächsischen Gemeinde, die bis zur Wiedervereinigung unmittelbar an der innerdeutschen Grenze lag, lohnt insbesondere wegen des mittelalterlichen Zisterzienserklosters, das zum Weltkulturerbe gehört. In Walkenried endet dann auch der Harzer Grenzweg und ich fädele mich nach kurzer Spurensuche wieder auf dem „Grünen Band“ ein. Meine Erwartung, dass nach Verlassen des Harz nun weniger Steigungen zu meistern sind, erweist sich als trügerisch. Bis zum Erreichen des Etappenziels in Duderstadt stehen weitere 1.100 Höhenmeter in der Tagesbilanz.
Der frühere Grenzübergang Duderstadt/ Worbis beherbergt heute das Grenzmuseum Eichsfeld. Neben Hintergrundinformationen zur deutschen Teilung vermittelt die Ausstellung auch einen Eindruck über das Leben an und mit der Grenze. Unmittelbar neben dem Museum erklimmt der zugehörige Grenzlandweg den Pferdeberg. An insgesamt 24 Stationen kann sich der Besucher über Details des ehemaligen Grenzstreifens informieren. Vom Standort der ehemaligen Führungsstelle lässt sich die hügelige Landschaft ringsherum vorzüglich überblicken. Zu sehen ist auch, was nicht mehr da ist. Der mittelalterlichen Klosteranlage Teistungenburg wurde ihre Lage im Sperrgebiet zum Verhängnis. In den Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde sie abgerissen.
Auf der andern Seite des Pferdbergs hat die Natur die betonierten Zeugnisse der ehemaligen Grenze längst verschlungen. Zuletzt verliert sich auch die Spur des Kolonnenwegs zwischen Rapsfeldern und Wiesen. Ein Ortschild lässt mich kurz innehalten. Böseckendorf – „Die Nacht in der ein Dorf verschwand“. Darüber hatte ich im Grenzlandmuseum etwas gelesen. Ein deutscher Fernsehfilm aus dem Jahr 2009 thematisiert die größte Massenflucht über die innerdeutsche Grenze. Über fünfzig Personen flüchteten 1961, um ihrer Deportation zuvorzukommen.
Beim Durchqueren des Leinetals stoße ich auf einen anderen Ortsnamen, der mir aus den Zeiten der deutschen Teilung ein Begriff ist. In Friedland befand sich das sogenannte Durchgangslager, durch das Bürger der DDR durchgeschleust wurden, bevor sie an ihre künftigen Wohnorte weiterreisten. Das Lager gibt es heute noch, nur sind es jetzt Asylsuchende aus dem nahen und mittleren Osten oder aus Afrika, die hier auf eine Weiterreise warten.
Bei Kirchgandern zieht das grüne Band in südlicher Richtung über einen bewaldeten Bergrücken und trifft bei Lindewerra auf den Fluss Werra. Das adrett hergerichtete Dorf mit seinen hübschen Fachwerkhäusern blickt auf eine wechselvolle jüngere Geschichte zurück. Die Werra-Brücke die erst ab dem Jahr 1901 das thüringische Dorf mit den zugehörigen Ackerflächen und Weiden verband, wurde noch 1945 von der sich zurückziehenden Wehrmacht gesprengt. Bis zur Wiedervereinigung war der Ort dem Westen sehr nahe, aber aufgrund seiner Lage auch besonders abgeschirmt. Im Gespräch mit Angehörigen des Stammtisches in der Gastwirtschaft „Zur alten Stockmacherei“ erfahre ich von zahlreichen Gräueltaten der Grenztruppen bis hin zur umfassenden Deportation von Einwohnern und deren Austausch durch Bürger aus anderen Landesteilen.
Bereits nach wenigen Kilometern zieht sich die Grenze kurz vor Bad Sooden-Allendorf von der Werra wieder zurück und verläuft über den bewaldeten Höhenzug des Naturparks Hainich. Zwischen Ifta auf thüringischer und Lüderhausen auf hessischer Seite lockt mich ein Hinweisschild mit der Aufschrift „Point India“ einen Waldweg hoch. Oben steht als Relikt einer US amerikanischen Einrichtung ein Beobachtungsturm. Er ist einer von vier Ausgucken, mit denen die NATO rund um das sogenannte „Fulda-Gap“ verdächtige Bewegungen des Warschauer Paktes besonders aufmerksam beobachtete. Wegen der Topographie in dieser Region erwartete das westliche Bündnis genau hier einen möglichen Angriff. Nach der Öffnung der Grenze wurde die Anlage geschlossen und zurückgebaut. Nur der Turm ist geblieben und eröffnet Besuchern von seiner obersten Plattform heute einen herrlichen Rundumblick.
Nordwestlich von Eisenach erreicht die Grenze erneut die Werra. Nur schlängelt sie sich hier nicht mehr durch ein tief eingeschnittenes Tal sondern erreicht in Höhe des ehemaligen Grenzübergangs Herleshausen offenes Gelände. Auf Ihrem weiteren Weg Richtung Philippsthal bewegt sich der Fluss fast ein wenig lustlos durch das thüringisch-hessische Kalirevier. Das mag vielleicht auch an den riesigen Abraumhalden liegen, die das Landschaftsbild hier prägen. Zudem hängt in der Luft ein unangenehmer Geruch. Erst das Tal der Ulster kann wieder versöhnen. Das breite Tal, durch das der kleine Fluss ungehemmt mäandern kann, lässt den Anblick der trostlosen Halden und den beißenden Geruch schnell vergessen.
Die Hinweise auf mein nächstes Etappenziel sind unübersehbar. Die thüringische Stadt Geisa wirbt mit zahlreichen Hinweisschildern als „Point-Alpha-Stadt“ um Besucher. Anders als bei „Point India“ zuvor, ist hier die gesamte Anlage erhalten und als Gedenkstätte zur Besichtigung freigegeben. Hier, nur etwa dreißig Kilometer von Fulda entfernt, war seinerzeit der westlichste Zipfel des Warschauer Paktes. Von Point Alpha aus führt ein Kolonnenweg entlang einer original erhaltenen Grenzbefestigung zum sogenannten Haus auf der Grenze. Exakt über Kolonnenweg und Zaun wurde eine Grenzmuseum errichtet, das den Besucher mit seinen Ausstellungen und zahlreichen Exponaten über die Zeit des Kalten Krieges informiert.
Unmittelbar nach dem Haus auf der Grenze zieht sich der Kolonnenweg weiter den Höhenrücken entlang. Auf den folgenden anderthalb Kilometern wird er flankiert von Skulpturen, die aus den Überresten der Grenze gefertigt wurden. Das grüne Band kehrt zurück in das Ulstertal und quält sich auf der ostwärtigen Seite den steilen Hang des Roßbergs wieder empor. Nur kurz hinter der ehemaligen Grenze liegt das Hotel „Katzenstein“, das ehemalige DDR-Granden wegen seiner Lage gerne besucht haben. Auch Erich Honecker soll hier häufig abgestiegen sein. Unweit der Hotelanlage erinnert eine hölzerne Tafel an den alten „Mückenhof“, der kurz nach Verstärkung der Grenze zu einer „Politischen Wüstung“ wurde, vulgo: er lag zu dicht an der Grenze und wurde abgerissen.
Auf der Route nach Birx, nahe dem Dreiländereck Hessen-Thüringen-Bayern, erwartet den Grenzgänger eine der schönsten Passagen in der Rhön. Das grüne Band lehnt sich hier eng an den „Hochröhner“, einen Höhenwanderweg, an. Die zugige, über achthundert Meter hoch gelegene Hochfläche gewährt einen grandiosen Rundumblick. Ein weiteres Grenz-Kuriosum findet sich in dem kleinen Ort Birx. Zu DDR-Zeiten war er von drei Seiten vollkommen abgeriegelt und nur über einen schmalen Korridor mit deren Staatsgebiet verbunden. Über das Leben im Sperrgebiet mit seinen fragwürdige „Privilegien“ kann man sich am Rast- und Gedenkplatz Gerstenstein mit Schautafeln und Audio-Botschaften von Zeitzeugen informieren.
Von diesem kleinen „Lands-End“ am südwestlichsten Zacken der ehemaligen DDR geht es nur in nordwestlicher Richtung weiter. Dabei stemmen sich mir wieder reichlich Höhenmeter und ein kräftiger Wind entgegen. Die Aussicht von der blankgewetzten Kuppe des Ellenbogen, dem höchsten Gipfel der thüringischen Rhön, entschädigt jedoch für die Mühe. Bei der Abfahrt werden, wie so oft, all die mühsam erarbeiteten Höhenmeter wieder pulverisiert. Das erste weißblaue Schild, das an mir vorbeirauscht, signalisiert mir, dass ich tatsächlich schon auf dem bayerischen Teilstück meiner Grenztour angekommen bin. Fladungen, die nördlichste Stadt Unterfrankens wird mich für die kommende Nacht aufnehmen.
Der nächste Morgen zeigt mir wieder seine nasskalte Schulter. Zusätzlich zehrt ein beständiger Ostwind an Muskel- und Akku-Kraft. Streckenweise muss ich alles anziehen, was ich an wintertauglicher Funktionsbekleidung dabei habe. Ins Schwitzen komme ich eigentlich gar nicht mehr. Das Streckenprofil in der bayerischen Vorderrhön kennt lediglich Steigung oder Gefälle. Ebene Passagen gibt es überhaupt keine. Gegen Mittag reißt dann die Wolkendecke doch noch auf. Schon von weitem ist das riesige Weltfriedenskreuz in Hermannsfeld auszumachen. Es steht unmittelbar neben einer ehemaligen Führungsstelle der früheren Grenzanlagen. Unter dem Motto „Im Zeichen des Kreuzes senkrecht und waagrecht durch´s Leben gehen“, entwickelte der weltbekannte Chorleiter Gotthilf Fischer die Idee, in aller Welt diese Kreuze zu errichteten.
An der Grenze der bayerischen Rhön zum Thüringer Wald ist auf einer großflächigen Waldlichtung ein weiteres Stück der DDR-Grenzanlagen als Freiland-Museum konserviert. Während ich mir noch einen Überblick über die gesamte Anlage verschaffe, hält neben mir ein weiterer Langstrecken-Radler. Er kommt aus Dresden und möchte die ehemalige innerdeutsche Grenze nordwärts abfahren. Eine ganze Weile schauen wir gemeinsam und wortlos in Richtung des Grenzzaunes. Ich schätze, wir sind im selben Alter und überlassen uns daher unseren Gedanken. Schließlich sagt er : „Ich mach dann mal weiter“, schwingt sich auf sein vollbepacktes Tourenrad und ist schon kurz darauf hinter der Waldecke verschwunden. Der Grenze ist er auch heute nicht näher gekommen. Als ich selbst die Grenze Richtung Bayern überquere, muss ich daran denken, dass das, was jetzt so einfach ist, vor dreißig Jahren schlicht unmöglich war.
Ab Irmelshausen wage ich mich, abseits aller öffentlichen Wege, in ein irrwitziges Labyrinth von Kolonnenwegen. Es ist fast wie ein Paralleluniversum in dem man sich nur allzu leicht verirren kann. Auch ich verliere, ebenso wie mein Navi, die Orientierung und muss schweren Herzens den ganzen Weg wieder zurückfahren.
Am Horizont ragen inselartig die beiden Gleichberge auf. Den Gipfel des höheren der beiden vulkanischen Basaltkegel krönte zu Zeiten des kalten Krieges eine sowjetische Funk- und Radarstation. Das Plateau war bis 1991 militärisches Sperrgebiet. Gerne hätte ich heute die Aussicht von dort oben genossen, aber meine Route dreht hier in Richtung Süden. Der Heldburger Zipfel war die südlichsten Ausstülpung des früheren DDR-Staatsgebiets. Auch heute ist die Region nur sehr dünn besiedelt. Einigen der verstreut liegenden Bauernhöfe sieht man ihre jüngere Vergangenheit als landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) noch an.
Zwischen Bad Rodach und Kronach gestalten die südlichen Ausläufer des Thüringischen Waldes mein Streckenprofil. Bei dieser Gelegenheit wird mir erneut bewusst, dass diese Grenze auch auf die Landschaft keinerlei Rücksicht genommen hat. Egal, was ihr in die Quere kam, ob fließende Gewässer oder steile Bergflanken, alles wurde grundsätzlich im rechten Winkel durchschnitten. Dadurch hatten die Kolonnenwege phasenweise fast unfahrbare Steigungen oder Gefälle.
Der Frankenwald ist Teil des Thüringisch-Fränkischen-Schiefergebirges. Diese Region nördlich von Kronach bis hinauf nach Ludwigsstadt ist für mich „Terra Incognita“, ein völlig unbekanntes Stück Oberfranken. Neugierig folge ich zunächst der Hasslach und später der Tettau durch ein tief eingeschnittenes Tal bis hinauf nach Alexanderhütte, einem kleinen Ort am Fuße des Rennsteigs. Ein paar steile Serpentinen später stehe ich auf dem bayerischen Teilstück des Fernwanderwegs, der nach Öffnung der Grenze auch auf den vierzehn oberfränkischen Kilometern begangen oder befahren werden kann.
Grünes Band, Lutherweg und Rennsteig verschmelzen hier im hohen Norden Bayerns zu einer Route. Die führt zunächst gemächlich auf der Höhe ostwärts, um sich bei Lauenstein abrupt in das Tal der Loquitz zu stürzen. Die Höhenlinien auf meiner topographischen Karte drängen sich hier beunruhigend dicht zusammen. Am ehemaligen Grenzübergang an der Villa Falkenstein arbeitet sich mein Grenzweg erneut ein enges Tal hinauf. Ein kleines Hinweisschild bittet um Rücksichtnahme auf den Schwarzstorch. Aber, obwohl ich mein Fahrrad schiebe und wie auf Samtpfoten durch den Wald schleiche, bekomme ich leider keinen dieser scheuen Vögel zu Gesicht.
In Blankenstein an der Saale endet oder beginnt – je nach Blickrichtung – der Rennsteig. Ich hefte mich nun an das Ufer der Sächsischen Saale und holpere mal wieder einen Kolonnenweg ostwärts. Hirschberg, dessen Namen ich bislang nur aus Staumeldungen der A9 kannte, macht einen ziemlich trostlosen Eindruck. Es wirkt, als wäre die innerdeutsche Grenze erst kürzlich gefallen. Mehrfach habe ich mir während meiner Tour die Frage gestellt, warum manche Orte immer noch derart abgehängt sind.
Es beginnt wieder leicht zu regnen. Das ist vielleicht ganz gut so, denn schönes Wetter und strahlender Sonnenschein wären unpassend für den Ort, den ich als nächstes erreiche. Ein Streckmetallzaun mit dem hinlänglich bekannten Zubehör kündigt ein bizarres Unikat der innerdeutschen Grenze an. Den kleinen Ort Mödlareuth, der nördlich des Tannbach zu Thüringen und südlich davon zu Bayern gehört. Jahrhundertelang war das kein Problem. Die vierzig Einwohner teilten sich eine Schule und ein Wirtshaus. Erst im Jahr 1952 wurde der thüringische Ortsteil hermetisch abgeriegelt und Mödlareuth zu dem am schärfsten bewachten Grenzort. Amerikanische Soldaten, die in der Region stationiert waren, gaben dem Dorf den Namen „Little Berlin“.
Kurz nach Mödlareuth informiert ein historische Grenzstein darüber, dass an seinem Standort Bayern, Thüringen und Sachsen einander berühren. Die letzte Etappe meiner Grenztour hat begonnen. Fast geht es mir zu schnell: der letzte Kolonnenweg, der letzte Zaun, der letzte Turm. Kurz vor dem Ziel stehe ich mitten auf dem ehemaligen Grenzstreifen und betrachte das Grüne Band, wie es sich tapfer der herandrängenden Kulturlandschaft entgegenstemmt. „Wo kommst du den her?“ fragt mich eine ältere Frau, deren Kommen ich nicht bemerkt hatte. Als ich ihr erkläre, dass ich die ehemalige innerdeutsche Grenze von der Ostsee bis hierher mit dem Fahrrad abgefahren bin, reißt sie die Augen auf. „Bist ja a Viech!“ Dann schüttelt sie mir die Hand. „Ich bin die Franziska aus Nentschau.“ Nentschau, Mittelhammer, eine Abzweigung nach links in den Wald hinunter und ich bin am Ziel angekommen. Holzplanken führen in das sumpfige Gelände in dem Bayern, Sachsen und Böhmen zusammentreffen und die ehemalige innerdeutsche Grenze endet.
1.400 Kilometer Grenzweg enden eher unspektakulär in einem Sumpf an der tschechischen Grenze. Das authentische Grenzerlebnis, das ich auf der ersten Etappe noch vermisst hatte, war diesmal durchaus vorhanden. Meine ursprüngliche Einstellung zur Grenze, dass sie sichtbarer, erfahrbarer sein müsste, habe ich korrigiert. Ich bin zur Überzeugung gelangt, dass die Grenzmuseen, die vielen Mahnmale und Gedenksteine einen angemessenen Beitrag leisten, die Erinnerung an Tod, Teilung und Vertreibung wachzuhalten. Die Grenze selbst, in ihrer monströsen Dimension, muss jedoch verschwinden. Die Natur leistet ihren wirksamen Beitrag dazu und wir sollten sie mit dem Grünen Band weiter gewähren lassen. Zurück bleiben Narben, die erahnen lassen, welch schlimmer Riss vierzig Jahre unser Land verunstaltet hat. Der Reißverschluss ist nun zu. Man kann ihn zwar sehen, aber er hält beide Seiten fest zusammen.