Mein Weg 1

Mein Weg 1

Zu Fuß und mit dem Fahrrad auf dem Jakobsweg – ein Tagebuch

Teil 1: Über die Pyrenäen, durch Navarra und Rioja bis nach Burgos

Noch etwas unschlüssig stehe ich im Pilgerbüro von Saint-Jean-Pied-de-Port. In der Warteschlange schiebt mich eine Gruppe Koreaner unaufhaltsam vorwärts. Will ich mir das wirklich antun? Achthundert Kilometer zu Fuß und mit dem Fahrrad, quer durch Nordspanien, bis zum Pilgermekka in Santiago de Compostela. Gleich zu Beginn des „Camino Frances“ geht es bereits richtig zur Sache. Die 1.400 Höhenmeter der Pyrenäen-Etappe filtern gnadenlos diejenigen aus, denen es nicht wirklich ernst ist. Aber auch danach will der 1000-jährige Weg nicht mit dir kuscheln. „Auf dem Jakobsweg wird jeder einmal weinen“, heißt es. Zur Vorbereitung habe ich viel über den Weg und das Pilgern gelesen. Eigentlich fühle ich mich gut vorbereitet und körperlich ausreichend fit. Und dennoch habe ich ein mulmiges Gefühl. „Votre Nationalité?“ – Die Frage nach meiner Herkunft holt mich zurück in die Realität des Pilgerbüros. Wenig später drücke ich eigenhändig den ersten Stempel in meinen „Credencial“. Der Pilgerpass wird die Stationen meiner Reise dokumentieren und er berechtigt zur kostengünstigen Übernachtung in den Herbergen entlang des Jakobswegs. Jetzt gibt es wohl kein Zurück mehr.

Vermutlich wird die Frage aufkommen, welches „Mobilitätskonzept“ ich für meine Pilgerschaft gewählt habe. Nun, meine Idee ist, die einzelnen Etappen an meinem Reisemobil zu beginnen und auch wieder dorthin zurückzukehren. Ausgehend von der üblichen einfachen Wegstrecke von 20 bis 30 Kilometer wäre das mit dem  Fahrrad gut zu bewältigen. Als Wanderpilger müsste ich für den Rückweg Bus oder Bahn nutzen. Das ist der Plan. Ob´s funktioniert wird sich zeigen.

Tag 1: Von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Roncesvalles (26 Km, 1.400 Höhenmeter)

Früh am Morgen fädele ich mich in die Kolonne der Pilger ein und beginne mit dem Durchschreiten der Port d´Espagne „offiziell“ meine Pilgerschaft. Bereits am Ortsrand von Saint-Jean-Pied-de-Port steigt der Weg steil an. Kein langsames Herantasten, kein Warmlaufen – vielleicht schon ein Fehlstart?

Eine Gruppe junger Briten stürmt an mir vorbei. „Buen Camino!“ Zum ersten Mal höre ich den Gruß der Pilger und erwidere ihn, noch ein wenig zaghaft. Die Sonne spitzt bereits über die Bergkuppen. Aus dem Nebel, der noch milchig auf den Tälern liegt, wachsen die Gipfel der Pyrenäen wie Inseln in den wolkenlosen Himmel. Es ist still. Zu hören ist nur das kollektive Klicken der Wanderstöcke. Das nächste „Buen Camino“ geht mir schon etwas selbstbewusster über die Lippen.

Nach etwa acht Kilometern kommt die erste Pilgerherberge, die „Refuge Orisson“, in Sicht. Gelegenheit zu einer Rast oder – falls die Leistungsgrenze bereits erreicht ist – zum Übernachten. Ich brauche beides nicht, denn ich fühle mich mittlerweile richtig gut. Ich habe meinen Rhythmus gefunden.

In den hinlänglich bekannten Pilgerfilmen erklimmen die Protagonisten gleich zu Beginn, bei Regen und Kälte, extrem steile Gebirgspfade. Mein Camino hingegen verwöhnt mich fast. Er ist zwar steil, aber auf dem ersten Teilstück durchgängig asphaltiert. Und die Wetterbedingungen sind ideal. Vor mir schleppt sich ein weiß gekleideter Japaner die Serpentinen hoch. Seinen Leidensweg markieren dicke Schweißtropfen auf der schmalen Straße. Die kleine Flagge Nippons auf seinem Rucksack wackelt bei jedem Schritt. Beim Überholen entbiete ich den Pilgergruß. Er nickt nur müde, hat offensichtlich nicht mehr die Kraft für eine Erwiderung.

Unmittelbar vor dem Croix Thibault, an dem der Jakobsweg die Straße verlässt und zu einem schmalen Saumpfad degeneriert, steht der Imbisswagen den das Pilgerbüro in seiner Informationsschrift angekündigt hat. Gerne nehme ich die Einladung zu einer Rast an. Eine Gruppe Radfahrer kommt mit ihren E-Bikes vorbei. Der Anführer erklärt, dass sie in acht Tagen in Santiago sein wollen. Die Reaktion der rastenden Pilger ist eindeutig: Unverständnis und Kopfschütteln. Die Elektro-Radler stürmen weiter. Den Hinweis, dass sie auf dem falschen Weg sind, hören sie nicht mehr.

Wie schnell das Wetter im Gebirge umschlagen kann, merke ich wenig später. Auf dem Weg vom Col Bentarte zur Rolandsquelle ziehen sich bedrohlich dunkle Wolken über den westlichen Pyrenäen zusammen. Das kommt unerwartet, denn die Wetter-App hat nichts dergleichen angekündigt. Aber bei wem will ich mich darüber beschweren? Als ich meinen Regenschutz überwerfe, fallen die ersten Tropfen bereits. Die grandiose Aussicht vom höchsten Gipfel der Etappe, dem Col Lepoeder, ist dadurch ein wenig verwaschen.

Mit einem Knie und Oberschenkel mordenden Gefälle geht es nun fünfhundert Höhenmeter hinunter. Auf steile und rutschige Geröll-Passagen folgt ein angenehm zu laufender Pfad durch dichten Buchenwald. Mittlerweile hat es aufgehört zu regnen. Ein großer Parkplatz kündigt mein heutiges Ziel, das Kloster Roncesvalles an. Ein Schild mit der Aufschrift: Zutritt nur für Pilger, scheint mich ein wenig zu adeln. Etwas scheu bitte ich die Empfangsdame um einen „Sello“. Mit strengem Blick mustert sie meinen, noch ziemlich jungfräulichen Pilgerausweis. Und dann drückt sie mir meinen ersten, erlaufenen Stempel hinein.

2. Tag: Von Roncesvalles nach Larrasoaña (30 km, 340 Höhenmeter)

Dieser Tag soll eigentlich eine moderate Radel-Episode werden. Meine Idee ist, das sich die körperlichen Belastung abwechseln sollen. Vergleichsweise wenig Höhenmeter und bis Pamplona soll es ja eigentlich stetig bergab gehen. Die morgendliche Bestandsaufnahme des körperlichen Betriebsapparates fällt überraschend positiv aus. Keine lahmen Extremitäten, keine Blasen – nur die Oberschenkel haben leichte „Bremsspuren“ vom steilen Abstieg am Vortag.

Aus Rücksicht auf das pilgernde Fußvolk, das sich zeitgleich in Marsch setzt, bleibe ich auf der Straße. Zügig geht es südwärts und, wie versprochen, überwiegend bergab. Der Verkehr bleibt moderat und die spanischen Autofahrer nehmen wirklich Rücksicht auf radelnde Pilger. Ein Aufstieg war angekündigt. Nach Überquerung des Flüsschens „Erro“ und der Durchquerung des Örtchens „Erro“ erwartet mich die serpentinenreiche Auffahrt auf den Berg „Erro“. Auch hier bleibe ich auf der Straße, denn der Pilgerpfad soll steil und felsig sein. Nachdem ich den Gipfel erklommen habe, wähne ich mich weit vor der ersten Welle der wandernden Pilger und beschließe, für die Abfahrt den Pfad zu nehmen – großer Fehler.

Die felsige und rutschige Piste ist selbst für Wanderer eine Herausforderung und für mich absolut nicht fahrbar. Vier Kilometer Stolpern und Rutschen gehen auf die Knochen und ziehen den letzten Saft aus den vorgeschädigten Oberschenkeln. Unten in Zubiri angekommen, vertraue ich mich wieder der N-135 Richtung Pamplona an. Fünf Kilometer später ist das Etappenziel Larrasoaña erreicht.

Der Ort ist vollkommen ausgestorben. Ich treffe keine Menschenseele an, die wenigen Geschäfte sind geschlossen. Über einem Hauseingang hängt eine bayerische Flagge. Einen Stempel für meinen Pilgerpass kann ich nirgends bekommen. Frustriert kehre ich um und erkläre Zubiri zum heutigen Etappenziel.

Für den heutigen Tag hatte mir die Wetter-App Regen vorausgesagt. Tatsächlich war es sonnig, trocken und sehr warm. Der wahre Pilger braucht keine App, er läuft eh bei jedem Wetter.

3. Tag: Von Larrasoaña nach Pamplona/ Zizur Menor (20 km, 146 Höhenmeter)

Es wird mal wieder ein Wandertag. Vielleicht können sich auf diese Weise, die vom gestrigen Radeln geschundenen Körperpartien wieder ein wenig erholen. Auf dem Weg durch das Tal des Rio Arga führt der Weg mal links, mal rechts des Flüsschens, ohne mit extremen Steigungen zu belästigen. Auf einem Rastplatz treffe ich Matthias aus Bonn, der gerade seine bandagierten Füße begutachtet. Hilfe braucht er aber nicht, wie er versichert. Eine Auszeit zwischen zwei Jobs will er für eine Neuorientierung nutzen.

Kurz hinter Arleta taucht der Camino hinab in die Außenbezirke von Pamplona. Über eine alte Steinbrücke gelange ich in den Vorort Vilava und dort zunächst zur kleinen Kirche „Trinidad de Arro“. Als Besonderheit gibt es hier die Möglichkeit des Self-Service-Stempelns. Alles liegt bereit. In der ersten Apotheke in der Fußgängerzone herrscht wohl Hochbetrieb. Zahlreiche, vor der Tür abgelegte Rucksäcke liefern einen deutlichen Hinweis auf die aktuelle Kundschaft.

Der Weg zieht sich nun scheinbar endlos durch trostlose Wohngegenden und Industriebrachen, bis die wuchtigen Mauern der Zitadelle das historische Zentrum ankündigen. Eine langgezogene Rampe muss der staunende Pilger noch erklimmen, um die „Porta Francia“ zu durchschreiten. In der Altstadt mischen sich dann Pilger und „gewöhnliche Touristen“. Zumindest sind keine freilaufenden Stier dabei, wie während des „Encierro“, des berühmten Stierlaufs. Der Camino führt mich zielstrebig durch die „Calle Mayor“ und den Zitadellenpark wieder hinaus aus der Altstadt.

Eher schmucklose Büro- und Geschäftsgebäude und die Universität säumen den weiteren Weg in Richtung der Wohnviertel im Südwesten der Stadt. Es ist heiß. Ich folge dem zu einem Rinnsal vertrockneten Pilgerstrom bis zu dem kleinen Örtchen Zizur Menor. Die Pilgerherberge an der romanischen „Iglesia de San Miguel Arcángel ist das Ziel für heute und Ausgangspunkt für morgen.

Einige Erkenntnisse konnte ich an meinen ersten drei Tagen bereits gewinnen.

Es gibt grundsätzlich drei Pilgertypen: den Rennpilger, den leidenden Pilger und den fröhlichen Pilger. Ich hoffe zum letztgenannten Typ zu gehören. Landpilgern ist wesentlich meditativer als Stadtpilgern und Toiletten sollte man nutzen, wann immer sie da sind.

4. Tag: Von Zizur Menor nach Puente La Reina (19 km, 575 Höhenmeter)

Ein Blick in meinen kleinen Wanderführer verrät, dass auch heute die Füße, das am besten geeignete Fortbewegungsmittel sind. Es ist noch dunkel, als ich losmarschiere und dräuend baut sich vor mir die dunkle Silhouette der „Sierra del Pérdon“ auf. Gekrönt wird dieser Höhenzug von unzähligen Windräder, die jetzt im Mondlicht weiß schimmern. Weit voraus, an der Bergflanke blitzen hin und wieder Lichter auf. Ich bin zu dieser Stunde nicht allein unterwegs.

Oben auf dem „Alto del Perdon“ ist es mittlerweile hell geworden. Der Blick zurück in die Ebene von Pamplona und voraus in das Tal des „Rio Arga“ ist einfach atemberaubend. Dunkle Gewitterwolken am Horizont fordern mich unmissverständlich auf, zügig die Höhe zu verlassen und weiterzumarschieren. Der Abstieg ist ein einziges Geröllfeld und erfordert höchste Konzentration. Nach etwa einer Stunde kann ich auf einem flacheren Feldweg wieder ein wenig entspannen. Ich habe mich anfangs immer über die vielen Socken gewundert, die am Wegesrand im Gebüsch hängen. Die Lösung ist einfach. Pilger trocknen ihre feuchten Klamotten außen am Rucksack hängend. Dabei gehen die Socken besonders leicht verloren. Nachfolgende Pilger heben sie dann auf. Auf dem Camino bleibt nichts liegen.

Die ersten Tropfen fallen und die Abstände zwischen Blitz und Donner werden immer kürzer. Ich werfe mir wieder meinen Regenschutz über. Ein Gewitter will ich aber nicht im freien Feld überstehen müssen und erhöhe die Schrittfrequenz. Das Läuten einer Kirchenglocke gibt mir ein Ziel. Es regnet bereits, als ich die kleine Kirche von „Uterga“ erreiche. Sie ist zwar verschlossen aber das Gewölbe davor bietet ausreichend Schutz vor dem heftigen Gewitter, das sich nun entlädt.

Das Unwetter ist zwar weitergezogen, aber die Regenwolken haben sich an den Bergen Navarras verhakt. Es macht keinen Sinn, länger zu warten. Im leichten Regen laufe ich weiter. Auf dem Weg haben sich große Wasserpfützen gebildet deren Umgehung eine neue Herausforderung darstellt. „Muruzábal“ soll irgendein beachtenswertes Bauwerk sein eigen nennen. Dem „Pfützenspringer“ steht aber augenblicklich nicht der Sinn nach Geschichte und Kultur. Auch Obanos durchquere ich zügig. Ich lerne aber eine vierte Pilgergattung kennen: den „Rudelpilger“. Er ist keine einzeln vorkommende Spezies und, wie ich bald feststellen kann, aus Deutschland eingewandert.

Es braucht fast zwei Kilometer, bis ich die hin und hertorkelnden Teutonen auf dem schmalen Weg überholt habe. Über „Puente la Reina“ reißt der Himmel endlich auf und die Sonne verschafft sich wieder Platz. Ein gewaltiger Regenbogen krönt das mittelalterliche Städtchen mit seiner imposanten Steinbrücke. Auf einem Hügel auf der anderen Seite des „Rio Arga“ liegt der Campingplatz der „Albergo de Santiago“, mein Ziel. Am Abend setze ich mit den Pilgern zum gemeinsamen Abendessen zusammen. Meine Befürchtung, mit wildfremden Menschen krampfhaft Konversation betreiben zu müssen, erweist sich als unbegründet. Es geht ungezwungen und ausgesprochen lebhaft zu. Es wird Englisch, Französisch, Deutsch gesprochen und fehlende Worte gestenreich ergänzt. Mir gegenüber sitzt Liam aus Dublin. Er hat den Camino auf vier Etappen nur angetestet und will unbedingt zurückkommen, um ihn vollständig zu gehen. Ich frage ihn, was ihn am meisten beeindruckt hat. Seine Antwort ist kurz: „Die Gemeinschaft so vieler, unterschiedlicher Menschen“.

5. Tag: Von Puente La Reina  nach  Estella-Lizarra (25 km, 485 Höhenmeter)

Es ist noch dunkel und wohltuend kühl, als ich mein Fahrrad abmarschbereit mache. Jetzt im September wird es erst gegen acht Uhr richtig hell. Die ersten Pilger starten bereits vor der Herberge zu ihrer heutigen Etappe. Ich muss noch etwas warten, denn für den buckligen Camino sind beim Radeln gute Sichtverhältnisse enorm wichtig.

Anfangs ist der Weg noch breit und ich kann die wandernden Pilger gut überholen. Aber schon nach wenigen Kilometern ist Schluss. Unvermittelt macht der Pfad eine scharfe Rechtskurve und steigt derart steil an, dass an Fahren nicht mehr zu denken ist. „Hätte man in den 1000 Jahren, in denen der Weg bereits gegangen wird, nicht für sanftere Steigungen und besseren Wegbelag sorgen können?“ ist die Frage, die sich mir immer wieder aufdrängt. Stoisch laufe ich in der Kolonne mit. Ließe die Steigung ein Überholen zu, ist der Weg zu schmal. Geht es bergab, ist es zu holprig zum Fahren. Letztendlich bleibt es beim Schieben. Ist auch kommunikativer. Steve aus den Staaten stellt mir technische Fragen zu meinem Fahrrad und mit dem brasilianischen Pärchen, das ich bereits zum vierten Mal treffe, kann ich erstmals ein paar Worte wechseln.

In stetigem Auf und Ab krieche ich durch die pittoresken Örtchen Ciraqui und Lorca. Ich bringe es tatsächlich fertig, mich in den engen Gassen zu verfahren. Ein alter Mann zeigt auf eine Tordurchfahrt und ruft „Camino“. Ohne seine Hilfe hätte ich die nicht gefunden. Kurz nach Villatuerta scheint das Ziel schon zum Greifen nah, verschwindet aber wieder, weil mich eine Senke erneut hinabzieht. Endlich bringt das Ortsschild „Estella-Lizarra“ Gewissheit, dass ich am Ziel bin.

Es waren nur knapp 25 Kilometer bis hierher, aber die hatten es wirklich in sich. Mein Quartier schlage ich auf dem Campingplatz „Lizarra“ auf. Leider gibt es hier nur konventionelle Camper und keine Pilger. Deren Gesellschaft vermisse ich bereits ein wenig.

6. Tag: Von Estella-Lizarra  nach Torres del Rio (29 km, 524 Höhenmeter)

Keine fünf Kilometer nach dem Start in Lizarra zieht mich das Hinweisschild „Fuente de Vino“ von der Straße weg. Es ist noch früh am Morgen, aber es haben sich bereits einige Pilger am Weinbrunnen versammelt. Aus dem rechten Hahn würde Wasser fließen. Vorzugsweise wird aber die linke Zapfstelle bedient, aus der tatsächlich Wein in die Becher läuft. Was für ein Start in den Wandertag. Ich habe die knapp 30 Radel-Kilometer im Blick und bleibe beim Wasser (ich schwöre).

„Dann trennt uns noch ein kurzer Aufstieg von….“ steht in meinem Jakobsweg-Wanderführer über den nun folgenden Wegabschnitt. Das erlebe ich wieder einmal völlig anders. während ich mein Fahrrad den ausgewaschenen, steilen Pfad nach „Villamayor de Monjardin“ hochwuchte, entfahren mir einige, unchristliche Flüche. Die Angaben zu Entfernung, und insbesondere Laufzeit sind mit Vorsicht zu genießen. Und wie steil eine Steigung ist, unterliegt auch keinem objektiven Maßstab.

Auf der weiteren Strecke über „Los Arcos“ nach „Sansol“ ist die Wegbeschreibung wieder zutreffend. Ich rolle auf breiten Schotterpisten durch eine sanft hügelige Landschaft. Kleine Wälder wechseln sich mit frisch gepflügten Flächen und Weinbergen ab. Im Farbspektrum dominieren Gelb-, Grün- und Ockertöne. Nach Norden hin rahmen die Ausläufer der Kantabrischen Berge“ das Panorama ein. So habe ich ihn mir vorgestellt, den Jakobsweg.

Schon von weitem ist das auf einer Anhöhe thronende „Sansol“ auszumachen. Obwohl ich gut vorankomme, kann ich kaum eine Verringerung der Entfernung registrieren. Schließlich schieben mich kräftige Windböen den letzten Anstieg hoch. Das verschlafene „Torres del Rio“ liegt quasi im Windschatten von „Sansol“. Den Weiler als „verschlafen“ zu bezeichnen grenzt an Euphemismus. Ich kehre um und fahre zurück nach Sansol. Die „Albergue Codés“ mit ihrer tollen Aussicht ist meine Wahl für die kommende Nacht. Beim Pilger- Abendessen sitze ich mit Maureen und Dave aus Kanada zusammen. Sie berichten, dass sie den Camino bereits in den 80er Jahren gelaufen sind. Auf meine Frage, warum sie ihn noch einmal laufen, antworten sie: „Um zu sehen, ob’s noch geht.“

7. Tag: Von Torres del Rio nach Viana  (12 km, 360 Höhenmeter)

Beim Etappenstart in völliger Dunkelheit sind die anderen Pilger nicht zu sehen sondern nur zu hören. Dabei fällt mir auf, dass deren akustische Signatur ebenso unverwechselbar ist, wie die optische. Ich höre die beiden Spanierinnen, die sich schreiend miteinander unterhalten. Zwei ältere Männer laufen schweigend, sind aber durch das absolut synchrone Klicken ihrer Wanderstöcke zu identifizieren. Und da wäre noch der Koreaner, der ständig husten muss.

Die Nacht über hat es kräftig geregnet und nur durch den Einsatz einer Taschenlampe kann ich verhindern, plötzlich knöcheltief in einer Pfütze zu stehen. Es ist noch nicht viel los auf dem Camino. Die wenigen Pilger, die unterwegs sind, laufen annähernd das gleiche Tempo. Seit gestern kenne ich jetzt eine weitere Spezies, den „All-Inclusive-Pilger. Diese Vertreter der wandernden Zunft verfügen über reservierte Quartiere und lassen ihr Gepäck transportieren. Sie sind die einzigen, die abends in der Herberge nicht in Funktionskleidung bei der Pilgerspeisung sitzen sondern aufgebrezelt zum nächsten Restaurant flanieren.

Der Weg von Torres del Rio nach Viana ist eigentlich abwechslungsarm. Von der Hochebene stürzt er sich immer wieder in kleine Canyons hinunter um sich auf der anderen Seite wieder hoch zu quälen. Es wird nur zögerlich hell. Die Sonne hat Mühe, sich durch die tief hängenden Wolken zu kämpfen. Aus dem Dunst schält sich langsam Viana heraus, die letzte Stadt Navarras vor der Grenze zu Kastilien. Zur Altstadt führen einige gewundene Gassen und nur wenig später tauche ich in das lebhafte Treiben der Fiesta San Mateo ein. Gefeiert wird der offizielle Beginn der Weinlese. Auch in Logroño ist aus diesem Anlass mit turbulentem Treiben zu rechnen. Ich beschließe aus diesem Grund, die Hauptstadt der Weinregion Rioja zu umgehen. Meinen heutigen Stellplatz finde ich am „Embalse de la Grajera“, einem Stausee südwestlich der Stadt.

8. Tag: Von Logroño (Embalse de la Grajera) nach Nájera  (26 km, 360 Höhenmeter)

Kaum habe ich mein Fahrrad für die Abfahrt aufgerüstet, fängt es an zu regnen. Nun ist die umständliche Prozedur des Nässeschutzanlegens doch unvermeidlich geworden. Die Pilger neben mir werfen sich flugs ihre Ponchos über. Praktische Dinger, aber darunter staut sich die Wärme und im Wind flattern sie wie losgerissene Segel. Trotz Wind und Regen geht es dann aber zügig die ersten Weinberge hoch. Auffällig ist der rostrote Boden in dem die knorrigen Reben stecken und darauf warten, endlich von den schweren dunklen Trauben befreit zu werden. Damit wird, wie ich jetzt weiß, unverzüglich begonnen.

Navarete ist an diesem Sonntagmorgen noch ziemlich verschlafen und bietet für mich keinen Anlass, zu verweilen. Der Camino lässt mich wieder talwärts rollen und schmiegt sich dann leider an die Autobahn. Nur ein Abstecher nach Ventosa, vielleicht für eine kurze Pause, verschafft ein wenig Abstand. Der „Café con Leche“ tut richtig gut an diesem Morgen, denn es ist ziemlich kühl. So gestärkt kann ich nun den kritischen Streckenabschnitt in Angriff nehmen. Der Aufstieg zum Alto de San Antón gleicht eher dem ausgetrockneten Bett eines Gebirgsbaches. Stellenweise muss ich das Fahrrad tragen. Glücklicherweise ist dieses unbequeme Wegstück nur kurz. Während ich noch die Aussicht über die Weinberge genieße, sprinten drei leicht adipöse Spanier mit ihren E-Mountainbikes vorbei. So eng, wie der Camino an dieser Stelle ist, muss es zwangsläufig zu unangenehmen Begegnungen mit Pilgern kommen.

Die langgezogene Abfahrt durch Weinberge endet in Nájera. Von einer ehemals „blühenden Residenz der Könige Navarras“ ist nichts mehr zu erkennen. Tristesse und Verfall prägen das Stadtbild. Der ausgeschilderte Campingplatz existiert nicht. Mir bleibt nur die weitläufige Grünfläche rund um Stierkampfarena. Ich verleihe Nàjera die Auszeichnung „hässlichste Stadt am Camino“.

9. Tag: Von Nájera nach Santo Domingo de la Calzada (22 km, 400 Höhenmeter)

Die Nacht war sehr kalt. Mit klammen Fingern löse ich das Mountainbike aus der Umklammerung des Fahrradträgers. Den Gedanken, Handschuhe anzuziehen verwerfe ich – noch. Nur ein kurzes Einrollen in der Altstadt von Nájera, dann will der Camino hinauf auf die Hochebene der „Rioja Alta“. Oben dasselbe Bild wie am Tag zuvor: Weinreben soweit das Auge reicht. Dazwischen immer wieder Weingüter (Bodegas) mit ihren klangvollen Namen. Ich möchte mir gerne deren Namen merken, um später im Supermarkt eine Flasche Rotwein ihren Erzeugern zuordnen zu können. Es soll mir nicht gelingen.

Es ist Montag und alle Cafes und Bäckereien, vor denen ich halte um ein „Bocadillo“ zu kaufen oder einen Kaffee zu trinken, haben heute geschlossen. Hungrig verlasse ich Azofra und strampele stetig bergauf nach Cirueña. Letzteres eine reine Retortenstadt mit vielen, überwiegend unansehnlichen Neubauten. Auch hier gibt´s für mich keinen Kaffee.

Auf der Abfahrt zum Etappenziel Santo Domingo fällt mir auf, dass seit geraumer Zeit keine Weinreben mehr zu sehen sind. Irgendwo zwischen Azofra und Cirueña hat das Getreide deren Platz eingenommen. Kastilien, die Kornkammer Spaniens ist offensichtlich nicht mehr weit. In Santo Domingo sind zwar auch die meisten Geschäfte geschlossen, aber ich bekomme wenigstens meinen Kaffee.

10. Tag: Von Santo Domingo de la Calzada nach Belorado (23 km, 460 Höhenmeter)

Um es vorwegzunehmen: das ist nicht die schönste Etappe. Der Camino klebt auf dieser Wegstrecke an der N-120, die einen unsäglichen Lkw-Verkehr aufnehmen muss. Lediglich zwei Abstecher zu etwas abseits gelegenen Dörfern sorgen für etwas Ruhe. Die muss man sich allerdings durch zusätzliche Höhenmeter teuer erkaufen. Zudem bläst ein mörderischer Westwind, der einem den muskulären Akku in Rekordzeit platt macht. Selbst an den wenigen Gefällstrecken – es geht ja schließlich in das kastilische Hochland – muss ich bergab kräftig treten. Ich bin froh, wenn das vorbei ist.

Meine Mitpilger kann das alles nicht verzagen. Unerschütterlich halten sie ihre Hüte fest und stemmen sich gegen den eisigen Wind. Mittlerweile sind mir viele der Menschen bereits bekannt. Wir grüßen uns wie alte Bekannte.

Aber es gibt auch Begegnungen, die weniger fröhlich stimmen. Ich sehe die ältere Amerikanerin wieder, die das Bild einer jungen Frau auf dem Rucksack trägt. Den alten Mann, der mit Maske und Sauerstoffflaschen und begleitet von einem Jüngeren, langsam Schritt für Schritt setzt. Ihn habe ich auch zuvor schon gesehen. Und ich erkenne das junge Paar wieder, das mit traurigen Augen einen leeren Kinderwagen vor sich herschiebt. Ich kenne die Geschichte dahinter nicht, kann das Leid nur erahnen. Auch das gehört zum Camino. Bis zum Ziel in Belorado registriere ich den Wind nicht mehr.

11. Tag: Von Belorado nach San Juan de Ortega (24 km, 430 Höhenmeter)

Früh um sechs Uhr, es ist noch dunkel, starte ich zu Fuß in Richtung der „Oca-Berge“. Über mir ein sternenklarer Himmel, aber die schmale Mondsichel spendet kaum noch Licht. Im Schein meiner Taschenlampe laufe ich zügig voran. In der ersten Ortschaft „Tosantos“ haben lediglich die Hähne ihre Arbeit bereits aufgenommen und krähen das Tageslicht herbei. Der Weg ist breit und steigt bis „Villafranca Montes de Oca“ nur leicht an.

Mittlerweile ist die Sonne aufgegangen und mich dürstet nach einem Kaffee. Geduldig stelle ich mich in die Warteschlange der Pilger und Lkw-Fahrer, die an der Theke der kleinen Bar ihre Bestellungen aufgeben. Der „Café con Leche“ tut mal wieder richtig gut.

Auf der Hauptstraße von Villafranca muss ich von einem Hauseingang zum anderen sprinten, weil sich Fußgänger und Durchgangsverkehr dieselbe Spur teilen müssen. An der Kirche kann ich mich endlich von der N-120 lösen und den Anstieg in die Oca-Berge in Angriff nehmen. Steil geht es gleich zur Sache. Die lautsstarke Konversation der beiden Schwedinnen hinter mir wird zunächst einsilbig und verstummt nach wenigen hundert Meter vollständig. Wenig später treffe ich auf zwei Kanadier, die mir erklären, warum sie die kanadische Flagge unübersehbar auf Rucksack und Kappe tragen. Sie wollen nicht mit Amerikanern verwechselt werden. „Amerikaner seien augenblicklich in Europa nicht gut angesehen“, schmunzelt William, der schon viele Jahre in Spanien lebt.

Der Camino nutzt für die zwölf Kilometer bis San Juan de Ortega überwiegend eine breite Feuerschneise durch die waldreiche Gegend. Ich treffe Matthias aus Bonn wieder, der mir berichtet, dass er sich mit den Blasen an seinen Füßen mittlerweile arrangiert hat. Er hofft nun am Zielort noch ein Bett zu bekommen. Alternativen gäbe es ja schließlich keine.

Die „Oasis del Camino“ ist ein ziemlich skurril anmutender Rastplatz. Bunt bemalte Skulpturen, Bänke und Tische säumen den Weg ohne erkennbare Ordnung. Monika aus Rosenheim fragt mich, wie weit es denn noch sei. Die Antwort: „es wären noch gute fünf Kilometer“, bringt sie ein wenig aus der Fassung. Sie sei sportlich und durchtrainiert, aber jetzt sei sie ganz einfach fertig.

Auch ich finde, dass sich der Weg ziemlich zieht. Als sich der Wald lichtet und nach einer Kurve endlich San Juan de Ortega in Sicht kommt, kann ich einen Jubel nicht unterdrücken. Endlich am Ziel. Ein kleiner Weltabgeschiedener Ort mit nur begrenzten Kapazitäten. Als die Herberge öffnet setzt sofort ein Run auf die Betten ein. Ich hole mir nur meinen „Sello“ und ziehe mich wieder zurück. Ein Besuch der allabendlichen Pilgermesse ist eine echte Erfahrung – auch wenn sie in Spanisch abgehalten wird. Am Pilgermahl kann ich diesmal nicht teilnehmen – ausgebucht.

12. Tag: Von San Juan de Ortega nach Burgos (27 km, 370 Höhenmeter)

Jetzt ist passiert, was ich bisher vermeiden konnte. Nach dem gestrigen Marsch habe ich mir eine Blase an der Ferse eingefangen. Somit ist das Fahrrad heute das Fortbewegungsmittel meiner Wahl. Es dämmert und ich fädele mich wieder in die noch lichte Pilgerkolonne ein. Begleitet von den „Buen Camino-Wünschen“ meiner Mitpilger komme ich gut voran. Als die Sonne aufgeht habe ich bereits „Atapuerca“, Fundstelle des mit 800.000 Jahren „ältesten Europäers“, erreicht.

Für einige Kilometer legt sich der Camino auf die schmale Landstraße und ich hätte den gelben Pfeil, der nach links weist, fast übersehen. Wenig später wünsche ich mir, ich hätte ihn übersehen. Den steinigen und ausgewaschenen Pfad auf den Matagrande wollte ich eigentlich vermeiden und den 1078 Meter hohen Berg lieber umfahren. Jetzt schiebe ich fluchend mein Fahrrad die Geröllpiste hoch und auf der anderen Seite wieder runter. An der wunderbaren Aussicht auf Burgos kann ich mich nicht so richtig ergötzen. Wenige Kilometer später muss ich mich entscheiden, welche der drei Routen stadteinwärts ich wählen möchte. Wirklich schön ist keine.

Meine Wahl ist der Weg, der sich an den Flüsschen Rio Pico und Rio Arlanzón orientiert. Da geht es zwar auch nicht ganz ohne Industrie, Autobahn und andere weniger ansehnliche Areale, aber die letzten Kilometer führen über den Paseo de la Quinta durch einen Park. Der anarchische Verkehr bleibt mir so, zumindest auf diesem Teilstück, erspart.

An der Calle Calzada treffen die Pilgerströme wieder aufeinander und gemeinsam geht es durch die Altstadt zur Kathedrale. Die „Catedral de Santa Maria“ ist schwer zu beschreiben. In über 400 Jahren Bauzeit haben sich hier verschiedene Regenten und Architekten ein monumentales Denkmal geschaffen. Zudem ist hier der spanische Nationalheld und Bezwinger der maurischen Besatzer „El Cid“ begraben. Als ich die Kathedrale betrete wird gerade eine Messe abgehalten. Ich bleibe vor der Absperrung stehen, um nicht zu stören. Die tolle Akustik, die den Gesang und die druckvolle Orgelmusik verstärken, entschädigen mich dafür, den Kirchenbau nicht vollständig besichtigen zu können.

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Mein Weg 2 – Seorsum – Auf besondere Art reisen

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