Mein Weg 2

Mein Weg 2

Zu Fuß und mit dem Fahrrad auf dem Jakobsweg – ein Tagebuch

Teil 2: Durch die kastilische Hochebene, die „Meseta“

Nach dem hektischen Treiben in Burgos sehne ich mich wieder nach etwas mehr Ruhe. Da passt es wunderbar, dass mich nur wenige Kilometer von der Stadtgrenze entfernt, die Meseta erwartet. Einhundertachtzig Kilometer bis nach León nur nahezu baumlose, karge Ödnis. Der Charme der kastilischen Hochebene ist eher speziell und erschließt sich nicht jedem. Ich will mich aber darauf einlassen.

13. Tag: Von Tardajos (Burgos) nach Castrojeriz (29 Kilometer)

Tardajos liegt ungefähr zehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Nach den gestrigen Erfahrungen mit dem teils chaotischen Verkehr in Burgos und den eher hässlichen Randbezirken, gönne ich mir den Luxus, meine nächste Etappe in Sichtweite des „Tierra de Campos“ (Ackerland) zu beginnen.

Als wollte mich die Meseta gleich zu Anfang emotional richtig einstimmen, empfängt sie mich mit einem vernebelten Grau. Die Sicht ist schlecht, es ist kalt und das Farbenspektrum der vegetationslosen Flächen reduziert sich auf Grau- und Brauntöne. Keine gute Gegend, sollte man unter Depressionen leiden.

Die holprigen Schotterpisten führen mich zunächst nach „Rabé de la Calzadas“, als die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg durch die niedrige Wolkendecke finden. Die zunehmende Wärme, Störche auf dem mittelalterlichen Kirchturm und bunte Bilder an den Hauswänden heben die Stimmung. „Es wird schon nicht so schlimm, in der Meseta“, mache ich mir selbst Mut.

Einige Kilometer später, nach einem monotonen Auf und Ab, bin ich mir sicher: ohne die Wegweiser des Camino wäre ich hier verloren. Markante Landschaftsmerkmale oder Vegetation, die eine Orientierung ermöglichen würden, fehlen völlig. Und dann taucht aus einer Senke unvermittelt der kleine Ort „Hontanas“ auf. Ein paar Herbergen und Restaurants fordern zum Bleiben oder zu einer Rast auf. Ich genehmige mir den obligatorischen Milchkaffee.

Klosterruine San Antón

Danach ändert sich das Bild. Die Route folgt einer schmalen Allee bis zur Klosterruine von „San Antón“ – es gibt also doch Bäume hier. Wer dem morbiden Charme der Überreste des mittelalterlichen Klosters erliegt, kann hier sogar übernachten. Kein Strom, kein Internet und nur kaltes Wasser, das sind die Bedingungen.

Castrojeriz

Der Camino schlüpft mitten durch das Bogengewölbe San Antóns und windet sich auf „Castrojeriz“ zu. Schon von weitem ist die Burgruine auf dem das Städtchen überragenden Bergkegel auszumachen. Der Parkplatz des geschlossenen Schwimmbades wird mein heutiges Nachtquartier.

14. Tag: Von Castrojeriz nach Frómista (30 Kilometer)

Die schönste Zeit, eine Tagesetappe zu beginnen, ist kurz vor Sonnenaufgang. Das ist jetzt, Ende September, keine große Herausforderung, denn die Sonne geht über Kastilien erst kurz nach acht Uhr auf. Ich wiederhole mich, aber es ist wieder mal kalt auf der Hochebene. Acht Grad zeigt das Thermometer an diesem Morgen. Aber mir wird schnell warm, denn kurz nach meinem Aufbruch erwartet mich der Aufstieg zum Tafelberg „Alto de Mostalares“ und der ist wirklich steil. Nach einer halbstündigen Schiebestrecke stehe ich oben auf dem Plateau und lasse das Farbenspiel des bevorstehenden Sonnenaufgangs auf mich wirken.

Während ich darüber sinniere, dass ich schon seit geraumer Zeit keine bekannten Mitpilger mehr getroffen haben, reißt ein Paar, das ich gerade überhole, die Arme hoch. Es sind Linda und Brett aus Boston. Wir haben uns vor acht Tagen in Sansol zum ersten Mal getroffen und sind uns seitdem bereits mehrfach über den Weg gelaufen. Wir tauschen unsere Pilger-Erfahrungen der letzten Tage aus und trennen uns dann mit dem gegenseitigen Wunsch nach einem „Buen Camino“ wieder.

In „Boadilla del Camino“ halte ich kurz an, um mir die Kirche „Nuestra Señora da la Ascunćion“ von innen anzuschauen, muss aber feststellen, dass auch die verschlossen ist. Als ich frustriert schon wieder auf mein Radel steigen will, treffe ich Matthias wieder. Er empfiehlt mir den Kuchen in der Albergue, aus der er gerade herauskommt. Er selbst ist in Eile, muss heute noch bis „Carrión des los Condes“ und das seien noch gute zwanzig Kilometer. Von Blasen an den Füßen ist überhaupt keine Rede mehr.

Sein Tipp war gut. Ich genieße den Mandelkuchen und einen Milchkaffee in dem hübsch gestalteten Innenhof der Herberge „En el Camino“.

Mein Weg führt mich nun an den „Canal de Castilla“, eine über zweihundert Kilometer lange Wasserstraße, die  früher für den Getreidetransport genutzt wurde. Heute dient sie in erster Linie zur Bewässerung der Felder. Ich folge dem Kanal bis zum Wehr bei Fromista. Ein beeindruckende Bauwerk, mit dem ein Höhenunterschied von vierzehn Metern überwunden wird. Für heute verlass ich den Camino und suche mir einen Platz für die Nacht.

Iglesia de San Martin in Frómista

15. Tag: Von Fromista nach Calzadilla de la Cueza (32 Kilometer)

Der Wanderführer verspricht für den heutigen Tag, das ödeste Teilstück des Camino. Ob das zutrifft, kann ich zunächst nicht bestätigen. Einen Großteil der Strecke fehlen mir die erforderlichen optischen Parameter. Bis kurz vor „Carrión de los Condes“ fahre ich bei Dunkelheit über die Landstraße und das sich anschließende Teilstück auf der alten Römerstraße „Via Aquitana“ verhüllt größtenteils dichter Nebel. Ich registriere lediglich das absolute Fehlen von Kurven.

Ich treffe mal wieder auf Matthias und gehe ein Stück mit ihm gemeinsam. Mittlerweile würde ich mir Gedanken machen, sollte ich ihn ein paar Tage nicht sehen. Während unseres „Pilger-Plausches“ lichtet sich der Nebel und enthüllt die „Via Aquitana“ in ihrer ganzen gradlinigen Pracht. Auf dieser Route transportierten seinerzeit die Römer das in Astorga geschürfte Gold bis nach Bordeaux. Ein sicherlich langweiliger Job.

Es hat gut getan, zu plaudern und für ein paar Kilometer den Fahrradsattel verlassen zu können. Doch ich muss schließlich meinen heutigen Wendepunkt noch finden und von dort aus auch wieder zurück zum Start. So trennen sich unsere Wege in der Gewissheit, das wir uns bestimmt bald wiederzusehen.

Bei der Vorstellung, dieses Wegstück zu Fuß gehen zu müssen, gruselt es mich ein wenig. Schon mit dem Fahrrad habe ich das Gefühl, nicht wirklich vorwärts zu kommen. Aber zu Fuß wäre es ja wie auf einem Laufband. In einer Senke taucht plötzlich der kleine Flecken „Calzadilla de la Cueza“ auf. Ein Blick auf den Wegstreckenzähler bringt die Erkenntnis, dass dies meine heutige Wendemarke ist.

Mein heutiger Stellplatz auf der Hochebene bei „Calzadilla de la Cueza“

16. Tag: Von Calzadilla de la Cueza nach Sahagún (23 Kilometer)

Die heutige Etappe bietet zwei Varianten. Die eine führt über Straße und holprigen Feldweg, die andere nur über Straße. Die Entscheidung fällt mir nicht schwer. Ich wähle die „Straße der Betonmischer“. Diesen Namen gebe ich der N-120, die wegen der parallel verlaufenden Autobahn verkehrstechnisch ausgetrocknet ist und fast ausschließlich von Betonmischern befahren wird.

Adobe-Bauten mit Lehmziegeln

Über Terradillos de los Templarios, das nun am Straßenrand auftaucht, habe ich zuvor gelesen, dass es im Mittelalter ein Stützpunkt des Templerordens gewesen sein soll. Die Ordensritter hatten sich den Schutz der Pilger auf dem Jakobsweg zur Aufgabe gemacht. Von dieser ruhmreichen Vergangenheit ist in dem winzigen Weiler heute nichts mehr zu erkennen. Einige baufällige Häuser, darunter auch die in der Region häufig vorkommenden Adobe-Bauten (Gebäude aus Lehmziegeln), gruppieren sich um eine kleine Kirche. So viel zum Höhepunkt meiner heutigen Etappe.

Noch dreizehn Kilometer bis Sahagún. Die Strecke ist derart reizarm, dass ich anfange die Betonmischer zu zählen. Auf jeden Kilometer kommen drei von diesen Ungetümen. Wo bringen die ihre Ladung nur hin?

Bei diesen Gedankenspielen hätte ich fast den Hinweis auf die kleine mittelalterliche „Eremita de la Virgen del Puente“ übersehen. Das wäre schade gewesen, denn hier steht die alte Pforte, die die geografische Mitte des Camino markiert. Ich habe die Hälfte des Weges geschafft.

Bei der Einfahrt nach Sahagún fällt mir mal wieder eine wesentliche Unsitte auf dem Camino auf. Der üblicherweise richtungweisende gelbe Pfeil wird häufig für wirtschaftliche Zwecke missbraucht. Hier hilft mir nur, stur der markierten Route auf meinem Navigationsgerät zu folgen und die Beschilderung zu ignorieren. „Sie haben ihr Ziel erreicht“. Nein, das stimmt nicht! Die andere Hälfte des Weges wartet noch.

17. Tag: Von Sahagún nach Reliegos (32 Kilometer)

Im Wanderführer wird als Alternative zum „Camino Frances“, die „Via Trajana“, eine alte Römerstraße angepriesen. Beide Varianten sind in etwa gleich lang und da ich ja wieder zurück muss, fände ich es spannender, unterschiedliche Strecken fahren zu können. Verlockend ist zudem die Beschreibung  im Wanderführer: „Ein Hauch von Afrika“. Also halte ich mich bei der Weggabelung rechts.

Anfangs fühlt sich alles noch ganz gut an – nur von Afrika keine Spur. Mir fällt allerdings auf, dass hier nur wenige Pilger unterwegs sind. Der Weg wird zunehmend ruppiger und ich muss immer häufiger schieben. Fast zwanzig Kilometer unfahrbares Geröll, die Autorin des Wanderführers sollte mir jetzt besser nicht begegnen. Das einzige, was dieser Weg mit Afrika gemein hat, ist die Abwesenheit von menschlichen Siedlungen. Also mein dringender Tipp: Wenn Pilgerin/ Pilger an diese Gabelung kommen sollte, unbedingt links halten!

Durchgerüttelt und fertig mit Bandscheiben und Nerven komme ich in „Reliegos“ an. Unverzüglich schwenke ich für den Rückweg auf den Original Camino Frances ein. Ich will es schnellstmöglich zu einem Ende bringen. Auf halbem Weg nach Sahagún begegnet mir Matthias. Er hatte Probleme mit den Beinen und musste einen Arzt aufsuchen. Der gab ihm Schmerzmittel und den für einen Pilger wenig hilfreichen Rat: „er solle sich schonen“. Ich biete an, ihn später mit dem Auto mitzunehmen. Er lehnt dankend ab.

Die „Eremita de la Virgen del Peral“ auf der Original-Route

Ich genieße den Rückweg richtig. Eine kleine, wenig befahrene Landstraße, flankiert von einem Fußpfad. Schattenspendende Bäume und alle sechs bis sieben Kilometer ein Dorf mit Einkehrmöglichkeiten. Ein Traum – jenseits von Afrika!

18. Tag: Von Reliegos nach León (25 Kilometer)

Catedral de León

Mein erklärter Wille ist es heute, nicht wieder im Verkehrschaos einer spanischen Großstadt herumzupilgern. Ich schicke voraus, ganz ist mir das auch diesmal nicht gelungen. Zunächst taste ich mich mit dem Fahrrad von „Reliegos“ bis nach „Mansilla de las Mulas“ vor. Das könnte vielleicht eine gute Basis sein, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach „León“ zu fahren. Nein, es entpuppt sich eigentlich nur als „Vorhof zur Hölle“. Frustriert kehre ich um und versuche mit dem Auto einen stadtnahen Campingplatz zu erreichen. Der ist aber schon seit Ende September geschlossen. So parke ich in der Vorstadt und gehe zu Fuß ins Zentrum. Also, alles wie immer.

Die Altstadt von „León“ erscheint mir sehr kompakt und wird von allen Seiten durch unansehnlich Wohn- und Zweckbauten bedrängt. Mir hat „Burgos“ wesentlich besser gefallen. Ich verlasse „León“ auf demselben Weg auf dem ich gekommen bin. Dabei werde ich noch Zeuge, wie Radelpilger verzweifelt versuchen, einen dreispurigen Verkehrskreisel zu meistern. Ich bin heilfroh, dass ich gelaufen bin. 

Meine Tagesbilanz: der Plan war gut, scheiterte nur an der Realität einer spanischen Großstadt. Fünfundzwanzig Kilometer hätte die heutige Distanz betragen. Letztendlich bin ich vierzehn Kilometer geradelt und immerhin noch zwölf Kilometer gelaufen. Also bin ich eigentlich einen im Plus. Mein Pilgergewissen bleibt unbelastet.

19. Tag: Von La Virgen del Camino (León) nach Hospital del Órbigo (30 Kilometer)

Das Tagesziel ist kein Krankenhaus, auch wenn es sich so anhört. Und um dorthin zu kommen gibt es mal wieder zwei Varianten.

Alternativer Camino

Ich stehe mit meinem Fahrrad am Ortsausgang von „La Virgen del Camino“ – so hässlich wie der Name lang, ist auch der Ort – und schaue auf ein Schild. Soll ich geradeaus der stark befahrenen N-120 folgen oder links den „Alternativen Weg“ in die Pampa wählen. Nach intensiven Beratungen mit zwei Holländern, die genau dieselbe Frage beschäftigt, entscheiden wir uns kollektiv für die Pampa.

Der Weg löst sich wohltuend schnell von dem infernalischen Verkehr an der Peripherie von „León“. Eine Überquerung der Autobahn – die hier ziemlich leer ist, weil sie kostet –  und es wird nach nur wenigen hundert Metern richtig ländlich. Zunächst auf Asphalt und dann wieder Schotterwegen komme ich gut voran. Vergessen ist die Hektik der Stadt. Nur wenige Pilger lassen sich auf die Ausweichstrecke ein. Die meisten werden bis Astorga sklavisch der Hauptroute entlang der Nationalstraße folgen.

In „Villar de Mazarife“ gönne ich mir einen Milchkaffee. Ich bin heilfroh, den kleinen Umweg genommen zu haben. Auf einer kaum befahrenen Landstraße rolle ich weiter Richtung Astorga. Am Horizont zeigen sich bereits deutlich die „Montes de León“, die mich in den kommenden Tagen noch beschäftigen werden. Der aufkommende Verkehrslärm signalisiert allerdings, dass ich mich zunächst wieder der N-120 nähere. Am Tagesziel in „Hospital del Órbigo“ hat mich der lärmende Verkehr wieder. Ein Lücke zwischen den herandonnernden Lastwagen abgepasst und ich bin im Ortsteil „Puente“. Die auf römischen Fundamenten ruhende Brücke über den „Rio Órbigo“ ist mit ihren zwanzig Bögen und dreihundert Metern Länge, die längste Brücke auf dem Camino. Sie markiert für mich den heutigen Wendepunkt.

Zurück fahre ich den „richtigen Camino“. Während ich auf dem Seitenstreifen der N-120 immer wieder den Kopf einziehe, wenn ein 40-Tonner an mir vorbeirauscht, kann ich den Gedanken nicht verdrängen, dass doch der 1000-jährige Pilgerweg zuerst da war. Warum müssen die Menschen, die ihn heute nutzen, derart um ihre Sicherheit fürchten. Jeder der jährlich 300.000 Pilger/ Pilgerinnen gibt jeden Tag mindestens fünfzig Euro für die Wanderschaft aus und ernährt damit die ganze „Industrie“, die sich rund um den Camino aufgebaut hat. Hotels, Gastronomie und Taxiunternehmen leben ausschließlich von dem Geschäft mit den Pilgern. Im Gegenzug wird erschreckend wenig für deren Sicherheit getan. Ich verleihe dem Streckenabschnitt zwischen León und Astorga die Auszeichnung „Schrecklichste Etappe des Camino“ und ermuntere dazu, entweder in „La Virgen del Camino“ nach links zu gehen oder von León nach Astorga den Bus zu nehmen. Euch wird ganz sicher vergeben.

20. Tag: Von Hospital del Orbigo nach Astorga (18 Kilometer)

Catedral de Santa Maria, Astorga

Früh morgens in der Altstadt. Aus den Hauseingängen der Herbergen treten die Pilger auf das Kopfsteinpflaster und formieren sich zur Tageskolonne. Einige von ihnen sind vermummt als müssten sie einem Blizzard trotzen. 

Zu Fuß will ich heute nach Astorga, dem früheren römischen Militärsstützpunkt und späteren Zentrum der spanischen Schokoladenproduktion. Kurz nach „Hospital del Orbigo“ werden wieder zwei Wege angeboten. Das Original, natürlich wieder entlang der Nationalstraße oder eine attraktivere Alternativ-Route. Ohne zu zögern wähle ich den Umweg, der sich in weitem Bogen durch die mittlerweile wieder hügelige Landschaft windet. Nachdem ich eine Gruppe lärmender Amerikaner hinter mir gelassen habe, kann ich endlich die Stille der frühen Stunde genießen.

Die große kastilische Ebene ist hier definitiv zu Ende und damit auch der zuletzt ziemlich penetrante Geruch von Kunstdünger. Hier wird Viehwirtschaft betrieben und vereinzelt sind auch wieder Weinreben zu sehen. Niedrige Steineichenwälder wechseln sich mit Pinienhainen ab. Pilger sind nur vereinzelt unterwegs auf dieser Route. Ich stoße lediglich auf eine Gruppe Koreaner, die einen verkaterten Eindruck macht. Normalerweise sind die Asiaten recht flott unterwegs, aber diese hier schleppen sich recht langsam voran. Auf meinen fröhlichen Pilgergruß reagieren sie sehr verhalten.

Ein großes Kreuz signalisiert, das Ziel ist nicht mehr fern. Und tatsächlich, in der Ebene sind die markanten Türme der Kathedrale von „Astorga“ auszumachen. Bis ich das historische Zentrum der ehemaligen Bischofsresidenz erreiche, vergehen allerdings noch mal neunzig Wanderminuten.

Die Wartezeit bis zur Abfahrt meines Busses, der mich wieder zurück nach Hospital del Orbigo bringt, gibt mir reichlich Gelegenheit, „Astorgas Schokoladenseite“ zu genießen.

21. Tag: Von Astorga  zum Cruz de Ferro (28 Kilometer, 680 Höhenmeter)

Blick zurück in die schier endlose „Tierra de Campos“

Heute soll es mit dem Fahrrad hinauf in die „Montes León“ gehen. Bis zum Eisenkreuz (Cruz de Ferro) möchte ich es schaffen, dem mit 1.528 Metern höchsten Punkt auf dem Camino. Nach den zweihundert Kilometern durch die Ebene der „Tierra de Campos“  ist das bevorstehende Höhenprofil schon ein wenig ungewohnt. Zum Glück geht es aber eher moderat los und so komme ich überraschend zügig voran. 

Nach einer Stunde Kurbelei leiste ich mir in “Santa Catalina de Somoza“ einen Milchkaffee. Zu mir an den Tisch gesellt sich Lucinda aus Neuseeland. Sie balanciert einen großen Teller mit reichlich Speck, zwei Spiegeleiern und etwas Salat. Ich habe mich schon häufig darüber gewundert, was Pilger so alles zum Frühstück verputzen. Während sie noch mit der harten Brotrinde kämpft, erklärt Linda, dies wäre bereits der zweite Anlauf  für den Camino. Den ersten hätte sie in Leon beenden müssen. Warum sie den Weg überhaut geht, frage ich sie. „Er steht auf meiner Bucket-List“, ist die simple Antwort.

Auf der Weiterfahrt nach „El Ganso“ muss ich daran denken, dass vor vier Jahren auf dieser Strecke eine amerikanische Pilgerin entführt und getötet wurde. Angesichts der idyllischen „Maragateria“ und der friedlichen Pilgergemeinschaft ist es ein wahrhaft bizarr anmutendes Verbrechen. Überhaupt säumen viele Kreuze den Rand des Jakobsweges. Sie erinnern daran, dass hier ein Mensch verunglückt oder verstorben ist. Kurz vor Santiago sind erst kürzlich zwei Pilger von einem Lastwagen überfahren worden. Der Tod ist auch auf dem Camino stets präsent.

Nach „Rabanal de Camino“ ist dann endgültig Schluss mit Kuscheln. Auf den sechs Kilometern bis „Foncebadón“ wuchtet mir der Camino noch einmal dreihundert Höhenmeter auf die Pedale. Trotz des eisigen Windes bin ich ziemlich ins Schwitzen gekommen, als ich in dem halb verfallenen Dorf ankomme. Der kleine Ort, der von seinen Bewohnern schon vor langer Zeit verlassen worden ist und nur noch aus Gastronomie und Ruinen besteht, versprüht einen morbiden Charme. Nichts für mich, ich will noch hinauf zum Eisenkreuz. Nach weiteren zwei Kilometern und einhundert Höhenmetern ist es dann soweit. Ein großer Steinhaufen am Wegesrand aus dem ein Eichenpfahl ragt, der von einem kleinen eiserne Kreuz gekrönt wird – das ist mein Ziel für heute. Auch ich lege hier, wie es der Brauch ist, einen Stein ab, den ich aus der Heimat mitgebracht habe. Den Erfolg des symbolische Ablegens einer Seelenlast kann ich sofort spüren, den von hier geht es fast eintausend Höhenmeter bergab.

22. Tag: Vom Cruz de Ferro nach Molinaseca (20 Kilometer, 950 Höhenmeter zunächst runter)

Die Schussfahrt talwärts erfüllt mich mit gemischten Gefühlen. Einerseits werden beim Bremsen nur die Unterarme beansprucht. Andererseits muss ich später die ganzen Höhenmeter wieder bergauf strampeln.

Blick über das Tal des „Rio Sil“

Kurz nach dem Start beim Eisenkreuz taucht in einer Senke das „Geisterdorf Manjarín“ auf. Hier steht überhaupt kein Haus mehr. Nur in einer abenteuerlich zusammengezimmerten Hütte hausen zwei vergessene „Ritter des Templerordens“ und versorgen Pilger mit dem Notwendigsten. Ich bin noch gut versorgt und rausche weiter talwärts. Nach einem kurzen Anstieg zum „Peña Liabaya“ geht es wirklich steil hinunter. Hier sind leistungsstarke Bremsen unverzichtbar. Noch nicht einmal die Einheimischen überholen mich hier auf dem schmalen Sträßchen. 

In „El Acebo“ halte ich an einer kleinen Herberge am Ortseingang. Am Tresen in der gemütlichen Gaststube nimmt Tanja vom Bodensee meine Bestellung entgegen. Sie ist vor einigen Monaten, nach einer eigenen Pilgerschaft, hier hängengeblieben. Wie es weitergehen soll, weiß sie augenblicklich noch nicht. Galicien habe ihr ganz gut gefallen. Zu meinem Milchkaffee empfiehlt sie mir den Mandelkuchen, der eine Geschichte habe. „Wer den gegessen hat, der wird Santiago gesund erreichen und sich auf dem Camino verlieben“, lacht Tanja. Mir würde das mit dem „Camino und gesund“ vollkommen reichen.

In rasanter Fahrt geht es vorbei an „Riego de Ambrós“ und anschließend über eine serpentinenreiche Passage bis nach „Molinaseca“. Der idyllisch gelegene Ort markiert das Ende meiner Talfahrt. Die weiteren fünf Kilometer bis zu den unansehnlichen Randbezirken von Ponferrada überzeugen mich davon, in Molinaseca das nächste Quartier aufzuschlagen. Dazu muss ich allerdings noch mein Schneckenhaus holen. Das steht noch oben beim Eisenkreuz.

23. Tag: Von Villafranca del Bierzo nach La Faba (24 Kilometer, 400 Höhenmeter)

Irgendetwas fehlt da. Der Startpunkt von heute sollte doch irgendwie mit dem Ziel vom Vortag übereinstimmen. Nun, ich gebe es zu. Die Etappe von „Ponferrada“ nach „Villafranca del Bierzo“ habe ich übersprungen. Mit dem Umstand, dass es im Einzugsbereichen von Städten wirklich kein Vergnügen ist zu laufen, hätte ich mich noch arrangieren können. Aber es war mir einfach nicht möglich, einen Platz für die Nacht zu finden. Und ich habe mich wirklich bemüht – großes Pilger-Ehrenwort.  Und dann war ich auf einmal schon in „Villafranca“, das nur etwa zwanzig Kilometer entfernt ist. Da habe das Hinweisschild auf einen Campingplatz gesehen und bin ohne große Erwartung hingefahren. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Er war geöffnet. So wurde dann „Villafranca“ unversehens zum neuen Startpunkt.

Ein enges, in die Berge eingekerbtes Tal nimmt eine Autobahn, eine Landstraße und natürlich den Camino auf. Mit wenig Zuversicht gehe ich die neue Etappe an. Überraschenderweise harmonisiert sich das Ganze nach nur wenigen Kilometern. Die Autobahn schraubt sich in luftige und nahezu unhörbare Höhen, die schmale Landstraße und der Camino folgen unten im Tal dem „Rio Valcarce“. Es gäbe noch die Variante des „Camino Duro“, des harten Camino. Der windet sich die steilen Hänge empor und verfolgt das Tal aus sicherlich aussichtsreicher Höhe. Aber ich bleibe lieber bei den „Weicheiern“ im Tal.

Das üppige Grün überfordert anfangs meine Augen, die durch die Monotonie der Meseta wohl einen Teil des wahrnehmbaren Farbenspektrums eingebüßt haben. Bei „Trabadelo“ stehen gewaltige Edelkastanien, die ich in dieser Größe niemals zuvor gesehen habe. Ich folge dem „Rio Valcarce“ bis sich der Camino in „Las Herrerías“ abrupt den Bergen zuwendet. Mit den Ausläufern der Kantabrischen Berge stellt sich den Pilgern eine letzte Hürde auf dem Weg nach Santiago entgegen. Noch einmal müssen steile Wege erklommen und große Höhenunterschiede bezwungen werden. In dem winzigen Bergdorf „La Faba“ ist die Welt für mich zunächst zu Ende. Hier komme ich mit dem Fahrrad nicht weiter. Schweren Herzens kehre ich um.

Abends auf dem Campingplatz komme ich ins Gespräch mit Motorradfahrern aus Deutschland. Die Schilderung meiner speziellen Art der Pilgerschaft, die mich täglich an den Ausgangspunkt zurückführt und demzufolge die Camino-Distanz annähernd verdoppelt, entlockt Max aus München nur ein trockenes: „Ach, du Scheiße!“

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Mein Weg 3 – Seorsum – Auf besondere Art reisen

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