Mein Weg 3
Zu Fuß und mit dem Fahrrad auf dem Jakobsweg – ein Tagebuch
Teil 3: Das Galizische Finale
Zu Beginn der Pilgerschaft erschien mir die zu bewältigende Distanz unendlich weit, und über die Zeit, die ich dafür brauchen würde, wagte ich noch nicht einmal eine Schätzung. Jetzt, mit dem letzten großen Anstieg und dem Übergang in die Region Galizien wird langsam zur Gewissheit, dass sich meine Reise dem Ende nähert.
24. Tag: Von La Faba nach Triacastela (30 Kilometer)
Auf der Passhöhe bei „O Cebreiro“ hängen die grauen Wolken fest und es ist kalt. Ich stelle das Auto direkt neben dem Museumsdorf ab und laufe zügig bergab in Richtung „La Faba“, dem gestrigen Zielort. Mehrfach werde ich von aufsteigenden Pilgern gefragt, ob ich mich verlaufen oder etwas vergessen hätte. Sogar die Hunde in den kleinen Weilern am Weg schauen verdutzt, weil sie aus der Richtung, aus der ich komme, niemanden erwarten. Nach nur einer Stunde Gehzeit und vierhundert vernichteten Höhenmetern bin ich wieder in „La Faba“. Mittlerweile ist die Wolkendecke etwas aufgerissen und ich gönne mir einen Milchkaffee mit berauschender Aussicht.
Der Wiederaufstieg nach „O Cebreiro“ ist alles andere als eintönig. Die Perspektive und auch das Licht sind anders als beim Abstieg und ich muss mich zudem nicht mehr für eine falsche Richtung rechtfertigen. Kurz vor dem Museumsdorf „O Cebreiro“ markiert ein Grenzstein den Übergang zur Region Galizien. Deren keltische Vergangenheit zeigt sich nicht zuletzt an den „Pallozas“, den typischen Steingebäuden mit ihren tief heruntergezogenen Strohdächern.
Für den weiteren Weg steige ich nun wieder auf das Fahrrad um. Zwei Pässe sind noch zu bezwingen, bevor es in rasanter Fahrt abwärts bis nach „Triacastela“ geht. Meine nächtliche Residenz wird heute der Parkplatz vor dem kleinen Rathaus.
25. Tag: Von Triacastela nach Barbadelo (32 Kilometer)
Von der Hinfahrt habe ich nicht viel mitbekommen. Anfangs war es noch dunkel und später neblig. Erst auf der Rückfahrt war es mir möglich, Teile der Stecke richtig wahrzunehmen. Das ist eben ein entscheidender Vorteil meines „Pilgermodus“.
Klosteranlage von Samos
Den Anfang macht mal wieder das Seitenstreifenbalancieren entlang einer Straße. Zu sehen ist nur das , was ich mit meiner Stirnlampe ausleuchten kann – und das ist nicht viel. Richtig hell wird es hier leider erst gegen halb Neun. Kurz nach „San Martin do Real“ darf ich endlich die Landstraße verlassen und mich dem klösterlichen „Samos“ über einen Waldweg nähern. Mittlerweile ist zwar die Sonne aufgegangen, aber unten im Tal liegt der Nebel wie flüssiger Stickstoff. Bald darauf trübt nicht nur die graue Suppe die Sicht sondern auch meine beschlagene Brille. Die gewaltige Klosteranlage aus dem 6. Jahrhundert nehme ich zunächst nur schemenhaft wahr. Leider ist auch hier eine Besichtigung nur zu bestimmten Zeiten möglich und die passen halt selten zu meinem Pilger-Rhythmus.
Dann hat mich die Straße wieder. Aber nicht lange, denn kurz nach „Teíguin“ folge ich der Empfehlung des Wanderführers und zweige nach rechts ab, auf eine längere, aber angeblich schönere Route. Von der sehe ich allerdings nicht viel, denn der Nebel hält sich hartnäckig. Irgendwann weiß ich auch nicht mehr, wo ich genau bin. Auf dieser Strecke ist kaum jemand unterwegs. Nur eine junge Pilgerin stöckelt eifrig durch die neblige Landschaft. An einer Steigung springt mir beim Schalten die Kette vom Kettenblatt. Ich steige vom Rad und ziehe mir routiniert meine Latex-Handschuhe über, um mich des öligen Problems anzunehmen. Aus dem Augenwinkel sehe ich wie die Frau, die ich kurz zuvor überholt habe, verunsichert stehengeblieben ist. Ich zeige auf die Antriebskette, was sie offensichtlich beruhigt.
Über eine Straße, die unvermittelt meinen Weg kreuzt, kann ich mich wieder richtig freuen. Allerdings hilft keinerlei Wegweisung bei der Orientierung. Nur mittels Kompass finde ich meine Richtung.
Kurze Zeit später materialisieren aus dem immer noch dichten Nebel, die unförmigen Wohn- und Geschäftsgebäude von „Sarria“. Mit ungläubigem Staunen rolle ich durch dieses „Antalya des Camino“. Hier wird allzu deutlich, dass die Stadt Ausgangspunkt für das „Ultralight-Pilgern“ ist. Einhundert Kilometer muss man zu Fuß mindestens zurücklegen, um in Santiago die „Compostela“, die Pilgerurkunde zu erhalten. „Sarria“ ist etwa einhundertzehn Kilometer entfernt und hat „Nájera“ in meinem Ranking der hässlichsten Städte am Camino soeben die Krone entrissen. Der Drang, diese Stadt schnellstmöglich zu verlassen, verleiht mir zusätzlichen Schub bei dem steilen Anstieg nach „Barbadelo“. Erst die idyllisch gelegene Herberge und ein vorzügliches galizisches Menü lassen das Erlebte ein wenig vergessen. In den nächsten Tagen werde ich sicherlich erleben, wie sich die Pilgerkultur auf dem Camino seit „Sarria“ verändert.
26. Tag: Von Barbadelo nach Portomarin (24 Kilometer)
Nach vier Wochen, in denen jeder Tag nach dem gleichen Schema abläuft, fällt es zunehmend schwer, die nötige Pilgerdisziplin einzuhalten. Es wird immer später, bis ich loskomme. Noch einhundert, noch neunzig noch siebzig Kilometer bis Santiago. Bislang habe ich die noch verbliebene Distanz überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Jetzt beginne ich runterzuzählen.
Seit „Sarria“ folge ich der Empfehlung, meinen Pilgerpass mindestens zweimal am Tag abstempeln zu lassen. Ich verstehe das als hilflosen Versuch, die missbräuchliche Verwendung des Pilgerpasses einzudämmen. Wer mit den Stempeln schummelt, um sich am Ende die „Compostela“ zu ergaunern, der betrügt doch letztendlich nur sich selbst. Dazu gehören insbesondere diejenigen, die mit dem Auto (oder Wohnmobil) die Stationen des Camino abfahren, um die Stempel zu sammeln. Die „Sprinter“ laufen die letzten einhundert Kilometer wenigstens.
Ab „Barbadelos“ zeigt sich der Camino mal wieder von seiner schönen Seite. Als ginge es darum, meine Motivation zu stärken. Es geht über kleine Sträßchen, Feld- und Hohlwege, immer wieder mit herrlichen Ausblicken in die hügelige, galizische Landschaft. Der „Einhundert-Kilometer-Wegstein“ bei „A Pena“ wird von „Sprintern“ für ein Gruppenfoto umlagert. Die haben ja schließlich bereits zehn Kilometer auf dem Buckel. Zu allem Überfluss werde ich noch gebeten, das Foto zu machen – ich hab’s leicht verwackelt.
Im Tal des aufgestauten „Rio Miño“ liegt dichter Nebel. Auf der rasanten Abfahrt hinunter nach „Portomarin“ ziehe ich alle Klamotten wieder an, die ich bereits ausgezogen hatte. Das Städtchen wurde in den Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unten am Flussufer abgerissen und weiter oben wieder aufgebaut. Als ich die schmale Brücke überquere ist der Wasserstand des „Embalse de Belesar“ allerdings so niedrig, dass sowohl die früheren Grundmauern als auch die alte Brücke zu sehen sind. Das neue „Portomarin“ überrascht mit einem schachbrettartigen Layout, das nicht hässlich ist. Es gibt sogar eine Stellplatz für Wohnmobile mit Seeblick.
27. Tag: Von Portomarin nach Melide (39 Kilometer)
Nach dem Start morgens kriecht der Nebel vom Stausee langsam hinter mir her. Auf halbem Weg nach „Hospital da Cruz“ geht ihm an der langen Steigung allerdings die Puste aus. Bevor es wieder querfeldein geht, stärke ich mich erst einmal mit einem Kaffee. In der kleine Bar läuft im Fernsehen eine Militärparade. Es ist Nationalfeiertag und richtig, aus diesem Grund haben heute auch die Geschäfte geschlossen. Schade eigentlich, denn meine Vorräte weisen erhebliche Defizite auf.
Es folgt mal wieder ein Wegstück, das besser zu Fuß zu bewältigen wäre. Enge Passagen wechseln sich mit steilen Anstiegen und Gefällstrecken ab. Der Untergrund ist überwiegend felsig. Immer wieder muss ich schieben. Dann trifft der Camino erneut auf die Landstraße. Hier kann ich zwar fahren, habe aber mit dem Straßenverkehr zu kämpfen. Es ist die Wahl zwischen Pest und Cholera. Bald kommt „Palas de Rei“ in Sicht. Wegen des Namens habe ich mir irgendwie etwas anderes vorgestellt. Eine Aneinanderreihung hässlicher Standardbauten. Betongerüste, die mit Ziegelsteinen verfüllt werden. Kein Grund anzuhalten. Es geht bergab, da kann ich noch ganz gut mit dem fließenden Verkehr mithalten. Auf der anderen Talseite folgt allerdings eine lange Steigung, die insbesondere bei dem Lkw-Verkehr überhaupt kein Vergnügen bereitet.
Ich bin heilfroh, als in der Ferne endlich „Melide“ auftaucht. Auch dieses Städtchen ist frei von touristischen Leckerbissen. Als Standplatz dient mir heute ein großer Parkplatz, den Lkw-Fahrer für ihre Ruhepausen nutzen. Es war schon mal alles besser.
28. Tag: Von Melide nach Arzúa“ (15 Kilometer)
Der angekündigte Wetterumschwung ist da. Bereits in der Nacht hat es begonnen zu stürmen und zu regnen. Ich lege Vollschutz an und laufe los. In einem Hohlweg kurz nach „Melide“ treffe ich auf Sharon aus Atlanta. In der Dunkelheit hat sie Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Dankbar lässt sie sich von mir den Weg ausleuchten. Wir laufen anschließend noch ein Stück gemeinsam. Sie erzählt, dass sie kurz vor der Rente steht und diese Auszeit auf dem Camino zu einer Art Neuausrichtung für ihr weiteres Leben nutzen möchte. Am Wegrand taucht ein kleiner Kiosk auf. Sharon möchte einen Snack zu sich nehmen, mir ist es noch zu früh dafür.
Alleine gehe ich weiter. Glücklicherweis hat es aufgehört zu regnen, aber der Boden ist aufgeweicht und die Steine rutschig. Insbesondere die Sprinter torkeln ein wenig unsicher über den Pfad. Sie sind wirklich gut von den „richtigen“ Pilgern zu unterscheiden. Die richtigen Pilger tragen keine grell neonfarbenen Klamotten, keine „hippen“ aber untauglichen Sneaker oder Dolce & Gabanna Sonnenbrillen (und das bei Regen) und sie sind nicht geschminkt (also auch die Frauen nicht).
In „Castañeda“ steht ein Mann vor einem Haus und fragt mich wo ich herkomme. Als ich es ihm sage, ist er vollkommen aus dem Häuschen. Shawn ist Engländer, spricht gut deutsch mit leicht britischem Akzent. Er hat lange in Bensheim an der Weinstraße gelebt. Heidelberg kenne er gut, sagt er. Er habe dort geheiratet. Seit einigen Monaten renoviert er dieses Haus hier am Camino. Er möchte gern sein Projekt „Open House“ realisieren. Da könne jeder kommen und übernachten oder etwas essen und gibt dann das, was er oder sie für angemessen halte. Sehr ambitioniert, meine ich und wünsche ihm viel Erfolg.
Im Wanderführer ist diese Etappe mit „leicht“ bewertet. Ich teile diese Einordnung nicht, denn es geht teilweise ziemlich steil rauf und runter. Nach einem besonders steilen Aufstieg, der insbesondere den Sprintern zu schaffen macht, tauchen dann die Außenbezirke von „Arzúa“ auf. So hübsch die kleinen Weiler mit ihren Granithäusern sind, so unansehnlich sind die Städte. Die vorherrschende Bauweise ist ein Betonskelett, das mit Ziegelsteinen verfüllt wird. Es gibt nur wenige Geschäfte. Es dominiert der Dienstleistungs- und Gastronomiebereich mit Focus auf vorbeiziehende Pilger.
Für den Rückweg nach „Melide“ würde ich gerne den Bus nehmen. Tatsächlich soll einer zeitnah in meine Richtung fahren. Ich warte kaum zehn Minuten an der Haltestelle und kann mein Glück kaum fassen als der Bus pünktlich auftaucht. Winkend mache ich auf mich aufmerksam und der Bus fährt vorbei. Der Fahrer hat mich gesehen, aber er ignoriert mich. Frustriert muss ich den Weg wieder zurücklaufen.
29. Tag: Von Arzúa nach O Pedrouzo (20 Kilometer)
Meine heutige Etappe war im Wanderführer mit der gestrigen zu einer einzigen zusammengefasst und mit 33 Kilometern als etwas lang aber einfach beschrieben. Das sehe ich anders. Ich bin definitiv froh darüber, zwei daraus gemacht zu haben.
Dieser Wandertag ist eigentlich ziemlich ereignislos. Es regnet nahezu pausenlos. Und wenn es nicht regnet, dann schüttet es. Mein Focus ist nicht auf die umgebende Landschaft gerichtet (von der ist sowieso nichts zu sehen) sondern auf das Geschehen unmittelbar vor meinen Füßen. Sturzbäche mäandern über die Wege, knöcheltiefe Pfützen bereiten den „Sudden Death“ für die Wanderschuhe. Es gibt keine schönen Ausblicke, keine Begegnungen, über die zu berichten sich lohnen würde. Lediglich einige nette Gesten oder Begebenheiten, die für die Gemeinschaft der Pilger so kennzeichnend sind, fallen mir wieder auf. Da ist die junge Frau, die dem vor ihr laufenden Pilger den verrutschten Nässeschutz wieder über den Rucksack streift. Oder der Pilger aus Lateinamerika, der die ganze Zeit aus vollem Hals singt. Das sind kleine wärmende Lichter an diesem ansonsten sehr trüben Tag. Mit der Wegmarkierung „20 Kilometer bis Santiago“ bin ich endlich in „O Pedrouzo“ und froh, dass diese Etappe geschafft ist. Ich muss zusehen, dass ich für das morgige Camino-Finale noch ein paar Klamotten trocken bekomme.
30. Tag: Von O Pedrouzo nach Santiago de Compostela (20 Kilometer)
Ein seltsames Gefühl begleitet mich, als ich an diesem Morgen bei Dunkelheit losgehe. Ich habe noch nicht wirklich registriert, dass ich heute das Ziel des Camino erreichen werde und damit auch mein Weg endet. Dreißig Tage lang bin ich jeden Morgen, meist noch bei Dunkelheit, zu Fuß oder mit dem Fahrrad aufgebrochen, um zwanzig, dreißig oder mehr Kilometer Richtung „Santiago de Compostela“ zurückzulegen. Wenn ich heute bei Kilometer Null ankomme und keine täglichen Etappen mehr zu bewältigen sind, muss ich dann „abtrainieren“ wie ein Leistungssportler? Derlei Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich durch völlige Finsternis irre. Wenigstens regnet es nicht.
Kurz vor dem Ziel fehlen mir Wegweiser, wo ich sie wirklich dringend brauchen könnte. Sonst stehen überall die typischen Wegsteine oder gelbe Pfeile helfen bei der Orientierung. Hier sind sie versteckt oder fehlen völlig. Immer wieder muss ich zurücklaufen, weil ich das Gefühl habe, auf der falschen Spur zu sein. Als ich die Lichter der Start- und Landebahn des Flughafens von Santiago sehe, weiß ich dass ich richtig bin. Der kleine Airport liegt quer auf dem Camino und muss in einem weiten Bogen umgangen werden. Auf der anderen Seite beginnt der lange Abstieg nach Santiago. In „Lavacolla“ mache ich eine kurze Kaffeepause. Früher sollen sich hier die Pilger gewaschen haben, um wohlriechend vor das Apostelgrab treten zu können. Ich fühle mich sauber genug dafür und beschränke mich auf meinen nun schon obligatorischen Café Con Leche.
Vom „Monte Gozo“ heißt es, dass die Pilger beim ersten Blick auf die Türme der Kathedrale einen Seufzer ausstießen. Ich seufze auch, aber nur deshalb weil in dem trüben Grau absolut nichts zu sehen ist. Während ich in die Außenbezirke der Stadt hinunterlaufe fängt es wieder an zu regnen. Es sieht hier nicht anders aus, als in den Vororten von Pamplona, Burgos oder León. Mir fehlt allerdings etwas von der Spiritualität, die ich in Navarra oder in der kastilischen Meseta so deutlich gespürt habe. Da war der Weg wichtig, hier scheint alles auf das Ziel fokussiert. Ich folge der vielfarbigen Kolonne schwankender Regenhauben. An der „Porta do Camiño“ ist die Altstadt erreicht. Es geht mal links, dann wieder rechts und schließlich etwas abschüssig durch ein Tor. Dann stehe ich auf der „Praza do Obradoiro“ direkt vor der Barockfassade der Kathedrale von „Santiago de Compostela“. „Sie haben ihr Ziel erreicht“, sagt mein inneres Navi.
Pilger jubeln, umarmen einander, fotografieren sich gegenseitig. Ich stelle mich zu den schweigsamen Pilgern an der Fassade des gegenüberliegenden Rathauses und schaue wie diese nachdenklich auf den riesigen Sakralbau. Was soll ich jetzt fühlen?
Für den finalen Akt der Pilgerschaft, die Ausstellung der Pilgerbescheinigung, der „Compostela“ muss ich das Pilgerbüro aufsuchen. Die Organisation ähnelt der in einer Kfz-Zulassungsstelle. Nummer ziehen und warten. Die aktuell aufgerufene Nummer ist die 439, meine Nummer 723 – da habe ich ja wohl etwas Zeit. Die Möglichkeit, mit meinem Handy den aktuellen Stand im Pilgerbüro abrufen zu können, befreit mich von der Notwendigkeit, dort stundenlang ausharren zu müssen. Ich kann also in aller Ruhe die Altstadt durchstreifen und mir vor allem die berühmte Kathedrale anschauen. Eigentlich ist die ein wildes Sammelsurium der unterschiedlichen Baustile aus sieben Jahrhunderten. Angefangen als romanischer Kirchenbau und anschließend in vielen Etappen ergänzt um Renaissance- und Barockanteile. Das innere ist größtenteils eingerüstet und mit Plastikplanen abgehängt. Es wird restauriert. Für das nächste heilige Jahr, in dem der Namenstag des heiligen Jakobus (25. Juli) auf einen Sonntag fällt, soll alles hergerichtet sein. Das wäre dann im Jahr 2021.
Mein Handy signalisiert, dass ich mich wieder zum Pilgerbüro begeben sollte. Nach Kontrolle meines Pilgerpasses wird mir die Pilgerbescheinigung mit den Worten „Willkommen in Santiago de Compostela“ ausgehändigt. Als ich das in lateinischer Sprache abgefasste Dokument in den Händen halte, da registriere ich endlich, dass mein Weg nun offiziell zu Ende ist.
Nachklang
Es ist der Tag nach meiner Ankunft in Santiago und heute fahre ich mit dem Bus in die Stadt. Erneut folge ich der Kolonne der Pilger, aber nun um gemeinsam mit ihnen die Pilgermesse zu besuchen. Während der Renovierungsarbeiten an der Kathedrale findet die allerdings in der Abteikirche San Francisco statt.
Die Kirche ist gestopft voll. Mir ist vollkommen unverständlich, warum so viele „normale Touristen“ die Sitzbänke füllen und die Pilger kaum einen Platz finden. Dann setzt Orgelmusik ein und eine junge Nonne beginnt zu singen – nur hartgesottene Pilger bleiben davon unberührt. Die Pilgermesse setzt für mich jetzt auch den emotionalen Schlussakkord zu meiner Reise.
„Cabo Finisterre“ mit Leuchtturm und Pilgerkreuz
Was hat diese Pilgerreise bewirkt? Hat sie mich verändert, meinem Leben neue Impulse spendiert? Die Antwort ist: In dieser Größenordnung mit Sicherheit nicht. Der Camino wird niemanden verändern, einen Kranken nicht heilen, einen Trauernden nicht zum Lachen bringen. Wer sich Lösungen für seine Probleme oder gar ein Wunder erhofft, wird vermutlich enttäuscht werden. Warum dann also überhaupt pilgern? Nun, zum einen wäre da die Erfahrung von Gemeinschaft mit vielen unterschiedlichen Menschen. In keiner anderen Lebenssituation kann ich die in einer solchen Intensität machen. Zum anderen erfahre ich womöglich, dass meine Probleme im Vergleich zu denen anderer Menschen doch nicht so groß sind. Die Gespräche mit anderen Pilgern können nicht nur unterhaltsam sein sondern in vielerlei Hinsicht auch bereichern. Und nicht zuletzt habe ich die einzigartige Gelegenheit, mehr als dreißig Tage lang, ohne störende Einflüsse von außen, in mich hinein zu hören, mir selbst kritisch zu begegnen.
Wenn ich all die Erfahrungen, die ich auf dem Camino gesammelt habe, zusammen mit meinen malträtierten Füßen und Gelenken mit nach Hause nehme, dann kann ich dort vielleicht etwas ändern – sofern das erforderlich ist. Und wenn das alles nicht der Fall ist? Ja, dann bleibt wenigstens die Erfahrung dieser Spiritualität des Camino und die Erinnerung an eine ganz besondere Zeit.
Jede Pilgerin und jeder Pilger macht mit Sicherheit eigene, nicht übertragbare Erfahrungen auf dem Camino. Mir haben insbesondere die Begegnungen auf meinem Weg viel gegeben. Die Gespräche mit Menschen unterschiedlicher Herkunft, Nationalität und Alter waren ein zentrales Element meiner Pilgerreise. Und der tägliche Wechsel zwischen Gedankenaustausch und dem Alleinsein auf dem Weg hat mir vermutlich auch die Beantwortung von ein paar spannenden Fragen ermöglicht. Zu einigen Lebensthemen konnte ich einfach und unverbindlich mal eine neue Perspektive wählen. Alles in allem sind dies kleine und kleinste Veränderungen, deren Auswirkung sich erst nach meiner Rückkehr zeigen können. Einen Erfolg kann ich aber schon jetzt verbuchen. Ich bin zwar kein neuer Mensch geworden, habe aber definitiv ein paar Kilo abgenommen und bin körperlich fitter als zuvor.
Matthias aus Bonn habe ich leider nicht mehr getroffen. Ich hoffe und wünsche, dass er es bis Santiago geschafft hat und in seinem neuen Job glücklich wird. Ach ja, und es stimmt – auf dem Camino wird jeder einmal weinen.
Zum Schluss noch ein paar nüchterne Fakten.
Der offizielle Jakobsweg endet in „Santiago de Compostela“. Einige Pilger folgen aber den alten Anschlussrouten, die am „Kap Finisterre“ und an der Kapelle der „Heiligen Jungfrau aus dem Boot“ in „Muxia“ enden. Diese weiteren neunzig Kilometer habe ich mir erspart und bin mit meinem Kasten an den Atlantik gefahren.
Die Pilger auf dem dem „Camino Frances“ bewältigen auf ihrem Weg von „Saint-Jean-Pied-de-Port“ nach „Santiago de Compostela“ eine Gesamtdistanz von 783 Kilometern. Davon habe ich wegen der Umgehung von „Logroño“, der teilweisen Abkürzung der Stadtetappen von „Pamplona, Leon, Burgos“ und dem Überspringen der Etappe „Ponferrada – Villafranca“ nur 696 Kilometer zurückgelegt. Es fehlen somit 87 Kilometer an der einfachen Pilgerdistanz. Durch mein Reisekonzept der täglichen Rückkehr an meinen Ausgangspunkt bin ich allerdings real 1.316 Kilometer gelaufen und geradelt. Damit hätte ich das Fehl mehr als ausgeglichen.
Weitere Informationen/ Erfahrungen gebe ich gerne per E-Mail weiter.