Keine Angst vor „Schietwetter“
Mit dem Fahrrad und zu Fuß entlang der Nordsee-Küste
Küstenbewohner haben einen treffenden Ausdruck für richtig schlechtes Wetter: „Schietwetter“. Damit ist nicht ein simpler Regentag, Wind oder Kälte gemeint. Nein, von „Schietwetter“ sprechen Friesen, Hamburger und Ostseeküsten-Bewohner nur dann, wenn alles zusammenkommt, und das für einen längeren Zeitraum. Ein Wetter, bei dem man den sprichwörtlichen Hund nicht vor die Tür jagt. Bei meinem Start auf Sylt herrschen allerdings ideale Wetterbedingungen für meine Tour entlang der Nordseeküste: Sonne, blauer Himmel und milde Temperaturen. „Schietwetter“ sollte ich erst später erleben.
Ich weiß, ich trete jetzt vermutlich vielen Inselbegeisterten auf die Füße. Aber Sylt ist einfach nicht mein Ding. Zu viele Luxus-Villen, zu viele SUVs, zu viel Tourismus-Rummel und zu wenig Einheimische, die sich das Leben auf dem schmalen Eiland noch leisten können. Damit wir uns richtig verstehen: Sylt hat mit seinen schönen Stränden und den wundervollen Dünenlandschaften durchaus reizvolle Seiten. Aber alles ist vermarktet, reglementiert und deshalb ich bin froh, als ich nach einem Höllenritt durch das völlig überfüllte Westerland wieder im Zug Richtung Festland sitze.
Auf meiner Weiterreise präsentiert sich mir der Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer als eine weite Schlicklandschaft, in der die Inseln Föhr, Amrum oder Pellworm nur als flache Konturen am Horizont auszumachen sind. Dazwischen liegen die Halligen, die der Dichter Theodor Storm einst als „Schwimmende Träume“ bezeichnet hat. Manche von ihnen sind nur winzige Eilande, von einer Handvoll Menschen bewohnt, die auf den Marschwiesen Rinder und Schafe halten.
Die nordfriesische Festlandsküste wird durch ein ganzes System von Deichen vor Sturmfluten geschützt. Davor reichen ausgedehnte Marschwiesen bis weit ins Wattenmeer. Es ist kein ideales Terrain für Küstenradler, weil die Radwege meist weite Bögen durch das Hinterland schlagen. Die Deichkronen bieten sich als alternative Route nicht an, denn die sind von abertausenden Schafen besiedelt. Selbst die asphaltierten Wege sind mit deren Hinterlassenschaften übersät. Zudem muss man alle paar hundert Meter eiserne Viehgatter passieren. Ich muss zugeben, dass ich mir von dieser Etappe etwas mehr erhofft habe. Ein Lichtblick hingegen ist mein neues Quartier im „DeichNahCamp“ bei Bredstedt. Junge Menschen haben hier mit viel Engagement einen tollen Stellplatz geschaffen, der für „schmales Geld“ alles bietet, was Camper auch zu einem längeren Aufenthalt bewegen könnte.
An der bekannten Szenerie ändert sich auch weiter südlich nichts. Es bleibt eher eintönig. Auch die Halbinsel Nordstrand ist hier keine Ausnahme. Ich trete in die Pedale aber der Horizont kommt einfach nicht näher. Bei einem Abstecher Richtung Sankt Peter Ording bleibe ich auf halber Strecke wegen verschiedener Baustellen stecken. Nach einer durch Umleitungen bedingten Irrfahrt gebe ich auf. Über die Eider-Brücke hinweg bewege ich mich nun zügig auf die Elbmündung zu. Überall das gleiche Bild: Deiche, Schafe, schnurgerade asphaltierte Wege, schier endlose Marschwiesen. In Friedrichskoog fragt mich ein Spaziergänger, wo man mal das Meer sehen könne. Ich muss ihm die Antwort schuldig bleiben.
Ich entschließe mich dazu, die Elbe bei Glückstadt mit der Fähre zu überqueren. Die Überfahrt ist zwar nicht billig, aber den Umweg über Hamburg will ich nicht auf mich nehmen. Der Fluss hat hier etwa die Ausmaße des Mississippi bei New Orleans und eine Fahrt mit der Schnellfähre nach Wischhafen dauert etwa eine halbe Stunde. „Willkommen in Niedersachsen“ begrüßt mich am anderen Ufer ein Schild mit dem Landeswappen. Ich wende mich nun stromabwärts, durch das „Alte Land“, Richtung Cuxhaven.
Den Gedanken, einen Abstecher nach Helgoland, der einzigen Hochsee-Insel Deutschlands, zu machen, gebe ich am Fährhafen schnell wieder auf. Es war ja auch eine Schnapsidee, an Pfingsten so etwas überhaupt in Erwägung zu ziehen. Rund um den historischen Leuchtturm „Alte Liebe“ herrscht der Ausnahmezustand und ich habe richtig Mühe durch den touristischen Mahlstrom Cuxhaven wieder verlassen zu können.
Sollte ich gehofft habe, die Küstenlinie zwischen Cuxhaven und Bremerhaven wäre ein wenig abwechslungsreicher, werde ich auf dem folgenden Streckenabschnitt in Richtung der Wesermündung schnell eines besseren belehrt. Es bleibt bei der bekannten Tristesse und den durch Schafe „dekorierten“ Wege. Im Kutterhafen von Dorum möchte ich mich für mein Durchhaltevermögen mit einem Krabbenbrötchen belohnen. Aber angesichts der neun Euro die dafür abgerufen werden, bleibt es dann doch bei der Matjes-Variante. Ein Busfahrer, der mich und mein Rad mitnimmt, erklärt, dass bedrohlich sinkenden Krabbenbestände für die astronomischen Preise verantwortlich sind. Viele Krabbenfischer müssten ihr Geschäft aufgeben.
Bremerhaven ist schon von weitem, wegen der Phalanx hochaufragender Containerbrücken, auszumachen. Bei der Fahrt durch den zweitgrößten Hafen Deutschlands ist, wegen des Lkw-Verkehrs und einem wild verzweigten Schienensystem, Vorsicht geboten. Schauen und zugleich Fahrradfahren geht nicht zusammen. Diese schmerzhafte Erfahrung muss ich machen, als ich mit dem Vorderrad in einer Schiene hängen bleibe und stürze. Ich beschließe, das Bike zu schieben, während ich dieser faszinierenden Choreographie des Be- und Entladen der riesigen Containerschiffe und Autotransporter zuschaue.
Eine urige Seemannskneipe mit dem Türschild „letzte Kneipe vor New York“ deutet eine weitere geschichtliche Episode Bremerhavens an. Der Hafen war nicht immer nur ein riesiger Umschlagplatz für Waren und Güter sondern auch einer der größten Auswanderungshäfen des 19. und 20. Jahrhunderts. Hier begann für Millionen von Menschen eine Schiffsreise, die sie in eine meist ungewisse Zukunft auf anderen Kontinenten führen sollte. Eine Dauerausstellung im Deutschen Auswandererhaus erzählt in fast beklemmend anschaulicher Weise die Geschichte derer, die ihre Heimat freiwillig verließen (oder auch verlassen mussten), um in fernen Ländern ein vollkommen neues Leben zu beginnen. Einen Besuch kann ich nur empfehlen.
Nach einem Sprung über die Weser und der Umfahrung des Jadebusens will ich in Wangerland meine Küstentour fortsetzen. Von Schillig bis Carolinensiel bietet sich das gleiche Bild wie an den vorangegangenen Küstenabschnitten. Und auch der Übergang nach Ostfriesland bringt keinerlei Veränderung. Watt, Deiche, Schafe und kleine Häfen, die sich kaum voneinander unterscheiden. Auch die Preise für Krabben sind ähnlich hoch wie andernorts. Allein ein Abstecher entlang des Benser-Tief in das hübsche Städtchen Esens sorgt für ein wenig Abwechslung.
Pünktlich zur Abfahrt der Fähre von Neßmersiel nach Baltrum zieht es heran: das „Schietwetter“. Das Wattenmeer, die Küste und die vorgelagerten Inseln – alles ist eingehüllt in ein konturenloses Grau. Der heftige Wind sorgt dafür, dass der Regen aus allen Richtungen zu kommen scheint. Es liegt mit Sicherheit am „Schietwetter“, dass wir die Kleinste der ostfriesischen Inseln fast für uns alleine haben. Auf unserer „stürmischen“ Rundwanderung treffen wir kaum andere Menschen an.
Über die Stadt Norden und Greetsiel nähern wir uns der Krummhörn, ganz im Osten Ostfrieslands. Die Küste ist hier zugleich das westliche Ufer der Ems-Mündung. Der Dauerregen und stürmischer Wind beschneiden das heutige Tour-Programm. Es bleibt bei einer Wanderung zum gelb-rot geringelten Pilsumer Leuchtturm, der vielen vermutlich aus den „Otto-Filmen“ bekannt sein dürfte. Nicht weit entfernt ist auch die Heimatstadt des bekannten ostfriesischen Komikers, Emden. Hier endet der Küstenabschnitt meiner Deutschland-Umrundung.
Von Usedom entlang der Küsten von Ost- und Nordsee bis nach Emden. Über zweitausend Kilometer durch sehr unterschiedliche Küstenlandschaften. Mit Wind meistens von vorne und im Schlussspurt mit typisch norddeutschem „Schietwetter“. Die freundlichen und hilfsbereiten Menschen bleiben mir ebenso im Gedächtnis wie die hohe Dichte an touristischer Infrastruktur mit ihren gesalzenen Preisen. Die Ostseeküste ist für Radler aus meiner Sicht „spannender“ als die eher eintönige Nordseeküste. Eine positive Überraschung war für mich der kurze aber kurzweilige Abschnitt an der deutsch-dänischen Grenze. Hier würde ich mich gerne noch einmal etwas ausführlicher umschauen.