Ma Normandie

Ma Normandie

Eine Reise in den rauen Norden Frankreichs

„Ma Normandie“ ist die halboffizielle Hymne der Normandie. Ursprünglich für die Kanalinsel Jersey komponiert, steht sie heute für das Selbstverständnis der Bewohner des einstmals größten Herzogtums Westeuropas. Sie sind stolz auf ihre über tausendjährige Geschichte, die atemberaubenden Landschaften, die zahlreichen Sehenswürdigkeiten und den Status als Wiege des Impressionismus. „Die Normandie freut sich auf Sie“, heißt es im Internetauftritt des französischen Tourismusbüros. Und wir freuen uns auf die Normandie.

La Côte d’Albâtre (Alabasterküste) – der Klassiker

Wer an die Normandie denkt, hat weiße Klippen vor Augen, die jäh in die türkisfarbene Brandung des Ärmelkanals hinabfallen. Und genau dieses Bild erwartet uns, als wir bei Sotteville-sur-Mer endlich die Küste erreichen. Endlose Felder und Wiesen, die sich unvermittelt dreißig Meter und mehr in die tosende Brandung hinabstürzen.

Meine anfängliche Einschätzung, die Normandie sei gewiss der Bretagne sehr ähnlich, erweist sich als völlig falsch. Das hier ist völlig anders. Auf unseren Wanderungen und Radtouren entlang der Küstenlinie von Yport, Fécamp und Etretat entdecken wir eine Küste, die sich immer wieder neu präsentiert. Der Wechsel von Gezeiten, Wetter und Licht lässt ständig neue Eindrücke entstehen. Ein spektakuläres Schauspiel, das die Erklärung dafür liefert, dass die Normandie in der Malerei als die „Wiege des Impressionismus “ bezeichnet wird.

Leider sind in der Normandie auch die Wundmale einer der größten Katastrophen des letzten Jahrhunderts unübersehbar. Die ganze Küste ist übersäht mit Bunkern, mit denen die deutsche Wehrmacht den sogenannten Atlantikwall zum unüberwindbaren Hindernis für eine alliierte Invasion machen wollte. In der jüngeren Vergangenheit haben sich Graffiti-Künstler der betongrauen Bauwerke angenommen und ihnen mit Farbe etwas von ihrer Monströsität genommen.

Es ist immer wieder ein Erlebnis, von den aussichtsreichen Klippen in die scharf eingeschnittenen Flussmündungen hinabzusteigen. Hier liegen nicht nur die kleinen, pittoresken Fischerdörfer sondern auch größere Hafenstädte, die Besucher mit kulturellen Leckerbissen anlocken können. In Fécamp ist es das Palais Bénédictine, ein Industriedenkmal mit einer fast überbordenden Flamboyant-Fassade. In seinen Hallen wird La Bénédictine hergestellt – ein köstlicher Likör, der mit einer geheimen Mischung aus 27 Kräutern und Gewürzen eine Geschmacksexplosion zu erzeugen vermag.

Ein Muss für jeden Normandie-Besucher ist Étretat mit seinen grandiosen Felsformationen. Allein ist man an diesem touristischen Hotspot natürlich nie, aber einen Fußmarsch zu den durch Erosion bizarr geformten „Falaises“ (Felsen), die den Ort einrahmen, sollte man nicht versäumen.

La Côte Fleurie (Blumenküste) – elegant und dicht bebaut

Die Seine-Mündung bei Le Havre markiert das Ende der Alabaster-Küste. Nach Überquerung der gewaltigen (und mautpflichtigen) „Pont de Normandie“ empfängt uns bei Honfleur die Blumenküste. An diesem eher flachen Teilstück der normannischen Küste reihen sich die mondänen Seebäder mit ihren schicken Hotels und Casinos aneinander. Klangvolle Namen wie Deauville, Trouville, Houlgate und Cabourg werben um die Gunst der Wohlbetuchten und Prominenten. Die Region ist dicht bebaut, sehr gepflegt und teuer – eigentlich nichts für uns.

Auf einer Wiese bei Cabourg finden wir für überzogene zwanzig Euro einen Stellplatz (ohne Strom und Entsorgungsmöglichkeiten). Das Sanitärgebäude mit den Ausmaßen eines Zeitungskiosks schließt abends, wenn das Betreiber-Paar das Gelände verlässt. Die zwei sind der einzige Grund, warum wir uns hier überhaupt für zwei Tage einquartieren. Sie sind irgendwie rührend und erinnern uns ein wenig an die Doku-Soap von den „Ludolfs“ auf ihrem Schrottplatz im rheinland-pfälzischen Dernbach.

La Côte de Nacre (Perlmuttküste) – urwüchsig und vom Krieg gezeichnet

Auch der spezielle Charme unserer Gastgeber vermag uns nicht länger aufzuhalten. Bei Ouistreham überqueren wir die Orne und finden uns an der Perlmuttküste wieder. Verglichen mit der Blumenküste ist es eine vollkommen andere Welt. Hier wirkt die Küste natürlich und stellenweise unberührt. Felsige Abschnitte lösen sich mit feinen Sandstränden ab. Im hügeligen Hinterland breiten sich grüne Weideflächen aus, die von buschigen Hecken und Naturstein-Mauern eingegrenzt werden. Die kleinen Fischerdörfer entlang der Küste sind eher ein wenig verschlafen. Es erinnert alles ein wenig an die britische Insel auf der anderen Seite des Kanals.

Die Perlmuttküste war allerdings auch Schauplatz der Operation „Overlord“, der Landung alliierter Truppen an der Küste der Normandie. Die Spuren der Schlachten und das Gedenken an die vielen tausenden Opfer sind vor allem in den Orten nahe der ehemaligen Landungsstrände bis heute lebendig. Zahlreiche Soldatenfriedhöfe, Bunker- und Befestigungsanlagen, Denkmäler, Museen und unverändert erhaltene Strandabschnitte erinnern an diese blutige Schlacht und veranschaulichen deren Dimension.

Die Bezeichnung „Goldstrand“ bei Arramanches-Les-Bains suggeriert eine schöne Badebucht. Tatsächlich errichteten hier britische Landungstruppen den größten künstlichen Hafen (Mulberry B) für die Eroberung der Normandie. Eine ebenso technische wie logistische Meisterleistung und ein weiteres Beispiel dafür, welche Ressourcen ein Krieg zu verschlingen mag.

Ein Abstecher nach Bayeux ist nach den Schlachtfeldern des Weltkriegs eine wohltuende Abwechslung. Das Städtchen blieb von Kriegsschäden weitgehend verschont und kann die Besucher mit einer intakten und homogenen Altstadt begeistern. Weitere Sehenswürdigkeiten sind die gotische Kathedrale und natürlich das „Musée de la Tapisserie“, in dem der fast siebzig Meter lange, mittelalterliche Teppich von Bayeux mit seiner Darstellung der Schlacht von Hastings zu sehen ist.

Die Halbinsel Cotentin – von allem etwas

Der Cotentin bildet den nordwestlichsten Zipfel der Normandie. Eigentlich gehören bereits die Landungsstrände der amerikanischen Truppen dazu, aber wir vollziehen den Übergang erst ab Quineville. Es sind nicht mehr ganz so viele Touristen, die sich um diese Jahreszeit in die urwüchsigen Landschaften des Cotentin verirren. Es ist ein zauberhaftes Ensemble aus Moorlandschaften, felsigen Klippen und langen Sandstränden, das wir ohne den üblichen touristischen Rummel genießen dürfen.

Unsere Vespa ist das Transportmittel der Wahl, um das nordöstliche Kap mit den hübschen Fischerstädtchen Saint-Vaast-La-Hogue und Barfleur zu umrunden. Weitere lohnende Ziele sind der Leuchtturm von Gatteville und die schier endlosen Strände bei Néville-sur-Mer. Unumgänglich ist ein Halt in einem der zahlreichen Fischlokale, die mit gegrilltem Fisch oder einer riesigen Portion Muscheln die Hungrigen anlocken.

Wir umgehen die wenig ansehnliche Hafenstadt Cherbourg und setzen unsere Reise im Nordwesten des Cotentin fort. Das Cap Hague und die Nez de Jobourg mit ihren steil ins Meer abfallenden Klippen umrunden wir auf einer schmalen Küstenstraße. Fast zum Greifen nah liegen die Kanalinseln im türkisfarbenen Meer. Einst waren sie Bestandteil des normannischen Herzogtums. Heute sind sie Eigentum der britischen Krone. Leider gehört auch die Wiederaufbereitungsanlage von La Hague zum Panorama. Wir behelfen uns, indem wir einfach nicht hinschauen.

Ein weiterer Abstecher ins Landesinnere führt uns nach Bricquebec-en-Cotentin. Das kleine mittelalterliche Städtchen blickt auf eine tausendjährige Geschichte zurück. Eindrucksvolles Zeugnis dieser Historie ist das Château de Bricquebec aus dem 12. Jahrhundert. Es gehört zu den am besten erhaltenen Festungsanlagen in der Region. Ein mittelalterlicher Markt im Inneren der Burg versetzt uns zurück in das normannische Gründungszeitalter. Ein kostenfreier Stellplatz an einem kleinen See rundet das positive Gesamtbild ab, das dieser Ort bei uns hinterlässt.

Barneville-Carteret liegt an der Westküste des Cotentin. Vom kleinen Hafen des Doppelstädtchens verkehren mehrmals täglich Fähren zu den bewohnten Kanalinseln. Wir verzichten auf dieses etwas kostspielige Abenteuer und folgen lieber dem Zöllnerpfad (Sentier des Douaniers), der sich in felsiger Höhe um das Cap Cartaret herumwindet. Der atemberaubende Ausblick auf das Meer und die kilometerlangen menschenleeren Strände lassen vergessen, dass wir irgendwann auch wieder den Rückweg antreten müssen. Carteret, da sind wir sicher, hat uns nicht zum letzten Mal gesehen. Als Tipp für den Abend geben wir gerne das „Terminus Carteret“ weiter. Im alten Bahnhof sitzen Einheimische und Touristen an Holzbänken und holen sich ihr Essen aus verschiedenen Außenküchen, die in alten Citroën Wellblech-Transportern (Citroën Typ H) eingerichtet sind. Die Getränke werden in der ehemaligen Bahnhofshalle ausgeschenkt.

In Granville, der letzten Station unserer Normandie-Reise hat uns das angekündigte Tiefdruckgebiet erreicht. Der stürmische Wind verhindert schließlich auch, dass wir die Sehenswürdigkeiten der Stadt in aller Ruhe genießen können. Es bleibt bei einem Besuch im Museum Christian Dior (wer Hüte mag…) und einem kurzen Rundgang durch die Altstadt mit Blick auf Festung und Casino. Bei einem letztem Spaziergang am Strand von Genêts ist uns noch ein Blick auf den Klosterberg des Mont Saint Michel vergönnt. Er scheint nur einen Steinwurf weit weg, nur ein kurzer Fußmarsch durch das glitzernde Watt. Das könnte man bei Ebbe tatsächlich tun, allerdings nur mit kundiger Führung. Aber, es muss ja noch was übrigbleiben – für unsere nächste Reise in den Nordwesten Frankreichs.

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