La Provence – Basse Saison

La Provence – Basse Saison

Die beliebte Urlaubsregion in Frankreich einmal ohne Touristen erleben

In diesem Jahr setze ich mein Vorhaben um, die touristischen Hotspots Frankreichs einmal außerhalb der Saison zu erleben. Mein Wunsch ist es, die Provence mit all ihren Sehenswürdigkeiten und wunderschönen Landschaften ohne Menschenmassen und dem damit verbundenen Verkehrsaufkommen genießen zu dürfen. Wie im Jahr zuvor in Italien war mir natürlich bewusst, dass dies mit Einschränkungen hinsichtlich Wetter, Tageslicht und Verfügbarkeit von geöffneten Campingplätzen verbunden sein dürfte. Dafür wäre die Situation für „Freisteher“ vielleicht etwas entspannter.

Meine diesjährige Route führt mich – mal wieder abseits der teueren Autobahnen – durch das Department Jura, an Grenoble vorbei in den Parc Naturel de Vercors. Zu Füßen des markanten Mont Agouille ist es nun, Ende Oktober, überhaupt kein Problem, einen kostenfreien Stellplatz zu finden, von dem aus sich die Wanderregion dieses Naturparks mit seiner atemberaubenden Bergwelt erschließt. Das Wetter ist spätherbstlich schön und selbst oberhalb von zweitausend Metern liegt kaum Schnee.

In kurzen Etappen entlang der Route Napoleon nähere ich mich meinem nächsten Ziel, dem Gand Canyon du Verdon. Es war bereits seit Längerem mein Wunsch, diese größte Schlucht Europas einmal in einer ruhigen Zeit zu Fuß näher zu erkunden. In Castellane schließe ich mich der Fließrichtung des Verdon an und folge ihm auf seinem Weg Richtung des Lac de Sainte-Croix. Die Felswände rücken immer näher zusammen und bald muss die Straße den kleinen Fluss verlassen und sich serpentinenreich in die Höhe winden. Am Point Sublime, einem der schönsten Aussichtspunkte auf die Verdon-Schlucht, sind die Schranken des üblicherweise kostenpflichtigen Parkplatz weit geöffnet. Das Übernachten, das die meiste Zeit des Jahres verboten wäre, ist nun überhaupt kein Problem.

Die Route des Crêtes ist wohl die spektakulärste Strecke entlang der Verdon-Schlucht. Auf 23 schmalen Asphaltkilometern schlängelt sie sich, immer dicht am Abgrund, von einem Aussichtspunkt zum nächsten. Durchgängig befahrbar ist der Rundkurs mit seinen engen Passagen allerdings nur im Uhrzeigersinn.

Die im Sommer stets ausgebuchten Campingplätze rund um La-Palud-sur-Verdon sind jetzt alle geschlossen. Für meine Wanderung auf dem Sentier des Pêcheurs finde ich aber problemlos einen Übernachtungsplatz. Nach einer etwa 90 minütigen Klettertour stehe ich unten am Verdon, der diese pittoreske Schlucht geschaffen hat. Aufwärts dauert es naturgemäß etwas länger. Nach etwa zwei Stunden erreiche ich wieder meinen Ausgangspunkt. Erst auf dem Rückweg fällt mir der Hinweis auf, dass der „Fischerweg“ eigentlich gesperrt ist. Er führt teilweise über Privatgrund und die Eigentümer haben das Betreten untersagt.

Der Lac de Sainte Croix, der den Verdon am Ausgang der Schlucht aufnimmt, hat mich noch nie zu einem längeren Verbleib animiert. Der Stausee und die Feriendörfer an seinen Ufern wirken auf mich einfach zu künstlich und retortenhaft. Das kleine Dorf „Allemagne-En-Provence“ hingegen, das ich auf der Weiterfahrt Richtung Durance-Tal durchquere, reizt mich zum Verweilen. Der Name soll sich auf eine frühmittelalterliche Kolonie der Alemannen beziehen. Von meinem Stellplatz auf dem Parkplatz vor dem mittelalterlichen Schloss aus dem 12. Jahrhundert kann ich die Einheimischen bei ihrem abendlichen Petanque-Spiel beobachten.

Westlich der Durance ändert sich das Landschaftsbild. Hier beginnt das Departement Vaucluse, das im Süden durch den Gebirgszug des Luberon geprägt wird. Es ist eine Region, in die ich mich in der sommerlichen Hauptsaison nicht hineinwagen würde. Aber jetzt im November ist das Risiko, im touristischen Rummel unterzugehen, sehr gering. Ich will die „Basse Saison“ nutzen, um auf zahlreichen gut beschilderten Radwegen die Gebirgskette des Luberon zu umrunden.

Mein Wunsch geht in Erfüllung. Das Wetter ist optimal und ich habe die herrliche provenzalische Landschaft mit ihren kleinen pittoresken Dörfern, den Lavendelfeldern, den Wein- und Olivenhainen ganz für mich. Nur selten begegnen mir andere Radtouristen oder Wanderer. Im nördlichen Luberon bleiben die Tagesetappen und die zu bewältigenden Steigungen moderat. Die Route führt mich durch mir unbekannte Ortschaften wie Saint-Michel-l´Observatoire, Reillanne und Saint Martin de Castillon. Typisch provenzalische Dörfer, die ich mit dem Auto nie entdeckt hätte. Und überall finde ich problemlos einen Stellplatz für die Nacht.

Westlich von Apt liegen die mir bereits bekannten regionalen Highlights. Saint-Saturnin-les-Apt, Gordes, Roussillion und Bonnieux habe ich bereits mehrfach besucht. Aber so ruhig und entspannt habe ich diese ansonsten von Touristen überrannten Orte noch nicht erlebt. Selbst das Postkartenmotiv des Klosters Senanque wird nicht durch Menschenmassen und parkende Autos verstellt.

Das Bergdorf Bonnieux vermag mit seiner Panoramalage zu begeistern. Von der alten Kirche (Vieille Eglise) hoch über der historischen Altstadt reicht der Blick bis hinüber zu den Monts de Vaucluse und dem Mont Ventoux. Hier kreuzen verschiedene Rad- und Wanderwege. Beliebt bei Radlern und Wanderern ist die „Artisan Boulangerie Pâtisserie“ deren Spezialität, eine der köstlichen Fougasse man unbedingt kosten sollte.

Richtung Westen, entlang des Nordhanges des Petit Luberon, schließen sich weitere sehenswerte Ortschaften an. In Sichtweite von Bonnieux thront auf einer Bergkuppe über dem Dorf Lacoste die Burg des Marquis de Sade. Zu Beginn der 2000er Jahre erwarb der Modeschöpfer Pierre Cardin die Ruine und eine erhebliche Anzahl an Häusern. Er ließ die Burg teilweise restaurieren und funktionierte den Ort zu einer Art Künstlerkolonie um. Längst haben die letzten Einwohner Lacoste verlassen und hinterließen ein zwar hübsch anzusehendes aber seelenloses Dorf.

Über Ménerbes, dem Wohnort des britischen Schriftsteller Peter Mayle („Mein Jahr in der Provence“, „Toujours Provence“, „Trüffelträume“) führt die Veloroute de Luberon weiter nach Oppède-le-Vieux.

Auf den Überresten einer römischen Siedlung entstand über die Jahrhunderte eine blühende Festungssiedlung. Nach Zerstörung durch Erdbeben und Plünderungen im 18. Jahrhundert wanderte die Bevölkerung hab und Oppède-le-Vieux wurde mehr und mehr zu einem „Geisterdorf“. Auf der Flucht vor der deutschen Wehrmacht siedelten sich ab 1940 Künstler in den Ruinen ein. Auch nach dem Krieg zog der morbide Charme des Dorfes weiterhin Kunstschaffende an. So entwickelte sich Oppède zu einem lebenswerten Ort, der mittlerweile einen langsamen aber stetigen Bevölkerungszuwachs verzeichnet.

Das kleine Städtchen Pernes-les-Fontaines, südlich von Carprentas, lohnt einen Umweg. Zum einen wegen der vierzig kunstvoll gestalteten Brunnen, die das Stadtbild verzieren. Zum anderen ist heute Samstag und somit Markttag. Der provenzalische Markt an der Promenade der Nesque zieht Einheimische und Touristen gleichermaßen an. Heute sind es ausnahmslos Einheimische, die sich an den vielen bunten Marktständen von der Qualität der angebotenen Produkte überzeugen können.

Die Nordroute der Luberon-Umrundung ist absolviert. Bei Cavaillon wechsle ich auf die Südseite des Gebirges und rolle wieder ostwärts. Allerdings erspare ich mir die wenig attraktive Etappe bis Mérindol. Auf dieser Strecke ist der Weg zwischen dem steilen Nordhang des Luberon, der Durance und einer Bahnlinie ziemlich eingeklemmt. Erst bei Lauris weicht das Gebirge wieder etwas zurück und erlaubt entspanntes Radeln nach Lourmarin.

Lourmarin

Bereits bei der Einfahrt in das schmucke Dorf, das als eines der „schönsten Dörfer Frankreichs“ klassifiziert wird, muss ich erkennen, dass eine wesentliche Erkenntnis, die ich gewonnen habe, hier nicht gilt. Lourmarin ist auch jetzt, im November, ziemlich überlaufen. Touristen bevölkern die engen Gassen und die Bistros und Cafés sind gut besucht. Ich fahre weiter.

Vaugines, Sannes und Gramboise sind meine weiteren Etappenziele. Hier ist es wieder ruhig, nur die Wildschweinjagd und die Olivenernte sind in vollem Gange. Anders als in Italien, Griechenland oder Spanien, wo mit mechanischen Hilfsmitteln die Oliven von den Bäume geschüttelt werden, ist es hier reine Handarbeit. Eine ebenso schonende wie mühsame Methode.

Nach knapp zweihundert Radelkilometern habe ich den Luberon nahezu vollständig umrundet und bin bereit, für neue Ziele. Auf dem Weg in Richtung der Montagne Ste-Victoire überquere ich bei Pertuis die Durance. Nach einem Übernachtungsstopp in dem kleinen Städtchen Joques zwänge ich mich durch eine enge Schlucht in den Montagne des Ubacs nach Vauverngagues.

Wer kennt schon Vauvernagues? Ein kleines verschlafenes Dorf am Nordhang der Montagne Ste-Victoire. Aber: der mittelalterliche Ort hat Geschichte und kennt viele Geschichten. Im 17. Jhdt. übernahm der französische Schriftsteller und Philosoph Luc de Clapiers das Schloss von Vauvernagues als Lehen von Ludwig XVI. Er führte in der Folge den Titel Marquis de Vauvernagues und gab als Philosoph viel Sinnstifftendes von sich: „Junge Leute leiden weniger unter eigenen Fehlern als unter der Weisheit der Alten.“ Richtig bekannt – zumindest unter Kunst- und Kulturbeflissenen – wurde das provenzalische Dorf aber, als sich Pablo Picasso mit seiner letzten Gemahlin hier niederließ und das Schloss erwarb. Er folgte damit letztendlich dem von ihm so hoch verehrten Paul Cézannes, der hier in der Region so viele Motive für seine Werke gefunden hatte. Auch Picasso wurde hier von einem Schaffensrausch ergriffen, dem „Delirium Vauverguensis“. Viele bekannte Werke entstanden am Fuß der Montagne Ste-Victoire bis zu seinem Tod im Jahr 1973. Pablo Picasso wurde im Burghof neben seiner Frau Jaqueline beerdigt. Die Erbin Picassos ließ das Schloss für eine dreimonatige Ausstellung im Jahr 2011 aufwändig restaurieren. Von Juni bis September durfte eine begrenzte Besucherzahl die Wohnräume und das Atelier des Meisters besichtigen. Alle Versuche, die Ausstellung zu verlängern und das Schloss allen Interessierten zu öffnen, scheiterten am Widerstand der Dorfbewohner. Seit über zehn Jahren ruht Pablo Picasso wirklich in Ruhe – ungestört von Besuchern. Ich stehe hier in unmittelbarer Nachbarschaft und hätte es mir schon gerne angesehen, das Château Vauvernagues.

Auf der gegenüberliegenden Talseite thront hoch über dem Schloß Vauvernagues das „Croix de Provence“. Ein knapp tausend Meter hoher Felsen, den ein riesiges stählernes Kreuz krönt. Sechshundert steile und steinige Höhenmeter sind zu überwinden, bis ich auf dem Gipfel des Berges stehe, den Paul Cézannes angeblich 87mal gemalt haben soll. Ob er ihn stets nur von unten gesehen oder auch einmal die phantastische Aussicht von den Seealpen bis zur Bucht von Marseille genießen durfte?

Vom Kreuz der Provence bis zu deren historischer Hauptstadt Aix-en-Provence ist es nur ein Katzensprung. Am TGV-Bahnhof weit außerhalb der Stadt hole ich die Gefährtin ab. Wir sind nicht zum ersten Mal in dieser so lebendigen, vielseitigen Universitätsstadt und entdecken doch immer wieder Neues. Es gibt nicht nur ein Aix. Es gibt das Aix der Römer, das der Renaissance, das Aix des Paul Cézannes und das der Studenten. Zum ersten Mal erlebe wir auch den Weihnachtsmarkt in Aix. Der wirkt allerdings ein wenig anachronistisch.

Wie oft sind wir schon daran vorbeigefahren? Wieder sind wir dicht dran und diesmal tun wir’s: wir fahren nach Marseille. Zweitgrößte Stadt Frankreichs (etwa so wie Hamburg) mit zweifelhaftem Ruf. Sicher, wir laufen durch Stadteile, in denen Französisch nicht die Amtssprache zu sein scheint. Aber unsicher fühlen wir uns definitiv nicht. Vielleicht mag das nachts anders sein. Wir arbeiten unser Pensum ab, laufen über zehn Kilometer, um die essentiellen Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Wir kaufen Seife, essen keine Bouillabaise und sind vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück.

Die immer zahlreicher werdenden Weihnachtsmärkte ermahnen uns, so langsam die Heimfahrt anzutreten. Es gäbe noch so viel zu sehen, aber das unaufhaltsam näherrückende Weihnachtsfest erfordert unsere Präsenz in der Heimat. Wir legen unsere Reiseroute so, dass ein Übernachtungsplatz „zufällig“ auf dem Gelände eines Château im Weinanbaugebiet Châteauneuf-du-Pape liegt. Nie zuvor habe ich in einer derart stilvollen Atmosphäre eine so individuell gestaltete Weinprobe erleben dürfen. Gut, dass wir noch ein paar Hohlräume finden, in denen Weinkartons Platz finden. Wir kratzen nun sicher haarscharf am Zuladungslimit.

Am Zusammenfluss von Rhône und Saône ist ein weiterer Stopp unvermeidbar. Wir buchen uns für zwei Tage auf dem uns bereits bekannten Campingplatz von Saint Genis ein. Mit Bus und Metro erkunden wir ein weiteres Mal die Metropole Lyon. Diesmal gelingt uns endlich ein Besuch des Musée des Confluences, das sich mit dem „Globalen Wissen“ rund um die Naturwissenschaften befasst.

Unser Fazit: Der Süden Frankreichs ist auch im Spätherbst ein äußerst lohnendes Ziel. Die Provence entschädigt Reisende mit ungewöhnlicher Stille und einzigartigen Farben für die etwas kurzen Tage und kühlen Temperaturen. Wer sich hier auf die „Basse Saison“ einlässt, wird nicht enttäuscht sein.

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