Mit dem Strom
Entlang der Elbe von Dresden nach Magdeburg
Sächsische Weinstraße – ist das ein Wortwitz? Ich kenne ja einige Weinstraßen – eine der Bekanntesten liegt schließlich fast vor der eigenen Haustür. Aber von einem Weinanbaugebiet in Sachsen habe ich bislang noch nicht gehört. Und jetzt sind wir hier. In einem Weingut nahe Dresden, lümmeln wir entspannt in bequemen Liegestühlen und genießen ein Glas kühlen Weißwein. Der Blick gleitet von den Weinterassen über die beschirmten Stuhlreihen bis hinab zum Barockschlösschen auf dessen Terrasse live musiziert wird. Der Urlaub im eigenen Land beginnt vielversprechend. Ich bin gespannt, was uns noch erwartet, auf unserer Reise entlang der Elbe.
Corona oder Covid 19 sind quasi zu Synonymen für geplatzte Urlaubsträume geworden. Auch wir hatten etwas anderes geplant, wollten die Normandie der Impressionisten erleben. Anstatt in den Westen sind wir nun ostwärts gefahren. Unsere Idee ist, die Elbe von Dresden aus ohne konkretes Ziel, abwärts zu begleiten. Mal sehen, wie weit wir kommen werden.
Der Streckenposten an der Zufahrt zum Parkplatz von Schloss Wackerbarth hebt nur müde einen Arm, um uns die Richtung zum Wohnmobil-Stellplatz zu weisen. Es herrscht ein reger Verkehr, den wir uns zunächst nicht erklären können. Erst ein Plakat klärt uns darüber auf, dass die sächsischen Winzer erstmals zum „Sommer der offenen Weingüter“ einladen. Den ganzen Sommer bis Ende Oktober locken zahlreiche Veranstaltungen Besucher in die Weinberge, Weingüter, Vinotheken, Höfe und Besenwirtschaften entlang der sechzig sächsischen Weinstraßenkilometer. Da bleibt uns ja wohl nichts anderes übrig, als mitzumachen.
Auch wenn wir nicht zum ersten Mal in der Region sind, ist ein Besuch der sächsischen Landeshauptstadt quasi verpflichtend. Ich muss aber gestehen, je öfter ich in Dresden bin, desto mehr werde ich der barocken Prunksucht der sächsischen Kurfürsten überdrüssig. Die Altstadt wirkt auf mich eher wie ein überdimensionales Freilichtmuseum. Beeindruckend, aber halt kein echter Lebensraum. Wesentlich mehr Lebensgefühl und Authentizität finden wir auf dem anderen Elbufer, in der Neustadt. Hier, im größten Gründerzeit-Ensemble Deutschlands, wird tatsächlich gelebt. Kleine Geschäfte, Boutiquen, Restaurants und Cafés sind für alle da – nicht nur für Touristen.
Nach einem Abstecher nach Moritzburg, dem Jagdschloss August des Starken, wenden wir uns wieder der Elbe und der sie begleitenden sächsischen Weinstraße zu. Mit dem Fahrrad lassen sich die kleinen Winzerorte auf unserem weiteren Weg von Radebeul über Coswig und Meißen am besten erfahren. Kurz vor dem kleinen Ort Diesbar-Seusslitz, der das Ende oder – je nach Fahrtrichtung – den Beginn der Weinroute markiert, drängt eine vierzig Meter hohe Felswand bis zum Flussufer vor. Nur ein schmaler Streifen bleibt für die Straße und unseren Radweg. In der Ortsmitte erregt ein kleines Barockschlösschen unser Interesse. Dem schleichenden Verfall preisgegeben, verströmt es mit dem angrenzenden, leicht verwilderten Park, einen herrlich morbiden Charme. Ein Hinweisschild zur „Goldkuppe“ führt uns einen kleinen Bergrücken hinauf, der die Reben des Seußlitzer Schlossweinbergs trägt. Von der drei Meter hohen Stele, die die schönste Weinsicht Sachsens im Jahr 2020 prämiert, öffnet sich ein grandioser Ausblick ins Elbtal.
Etwas wehmütig verlassen wir die abwechslungsreiche Weinregion Sachsens. Kurz darauf glättet sich die Landschaft und der Fluss scheint sein Tempo etwas zu drosseln. Wir wechseln das Ufer mit einer hier häufig eingesetzten Gierseil-Fähre, die zum Vortrieb nur die Kraft der Strömung ausnutzt. Der Elbe-Radweg löst sich immer häufiger vom Fluss und nähert sich kurvenlos der Kreisstadt Riesa. Hier ist Markttag und uns fällt eine lange Schlange wartender Menschen auf. Mit Schüsseln „bewaffnet“ stehen sie vor einer Wurstküche, an der heute Soljanka, eine säuerlich-würzige Fleisch-Wurstsuppe, ausgeteilt wird. Gerne hätten wir auch davon probiert, aber uns fehlte das erforderliche Geschirr.
Das kleine Renaissance-Städtchen Torgau war bereits im 16. Jahrhundert Residenz der sächsischen Kurfürsten und ein politisches Zentrum der Reformation. Im April 1945 trafen hier, auf den Trümmern einer gesprengten Elbbrücke, die Spitzen amerikanischer und sowjetischer Truppen aufeinander.
Bei einem Rundgang durch die Altstadt bewundern wir die mittelalterliche Burganlage mit ihrem Bärengraben. Dessen fast sechshundertjährige Besiedelungstradition setzen aktuell drei lebende Braunbären fort. Auf Empfehlung eines freundlichen Mitarbeiters des Tourismusbüros lassen wir den Tag im gemütlichen Restaurant „Herr Käthe“ (Spitzname der Ehefrau Luthers, Katharina von Bora) ausklingen.
Nach der Gebietsbeschreibung ist das Klödener Riß ein „schwach durchflossenes Elbealtwasser“. Im Biosphärenreservat Mittelelbe bilden diese abgeschnittenen Flussarme eine einzigartige Auenlandschaft mit einer besonders schützenswerten Tier- und Pflanzenwelt. Es ist still hier. Nur gelegentlich hört man einen Specht, der die Rinde eines abgestorbenen Baumes bearbeitet oder einen Graureiher der aus dem Schilfgürtel flüchtet.
Wir haben in der Gemeinde Klöden auf dem Gelände eines ehemaligen „Drei-Seiten-Hofes“ einen idyllischen Stellplatz gefunden. Die Pension „Auf der Tenne“ bietet sowohl durchreisenden Elbradlern und Campern als auch länger verweilenden Gästen die jeweils passende Unterkunft.
Wir entschließen uns spontan, etwas länger zu bleiben, um mit dem Fahrrad die Gegend ausgiebig zu erkunden. Einen Abstecher lohnt auf alle Fälle der kleine Ort Mauken. In der Eismanufaktur, direkt neben der Elbfähre gelegen, laben sich die Elbradler an einem „frisch gemolkenen Eis“. Und auch einen Besuch der mittelalterlichen Burg Klöden sollte man keinesfalls versäumen. Ein kleines Museum informiert über die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, in der das Gemäuer als Schule, Standesamt, Kindergarten und Jugendherberge genutzt wurde. Der Folterkeller ist düsteres Zeugnis einer anderen, länger zurückliegenden Epoche. Nach so viel Naturerlebnis, Geschichte und Kultur ist ein Besuch der Burgschänke der krönende Abschluss.
Der nächste Meilenstein auf unserem Weg stromabwärts ist das Zentrum der Reformationsbewegung, die Lutherstadt Wittenberg. Zahlreiche Gebäude in der Altstadt, darunter natürlich die Schlosskirche und das Lutherhaus gehören zum Welterbe der UNESCO.
Nur etwa dreißig Kilometer weiter erwartet uns in Dessau eine weitere UNESCO-Welterbestätte. Das Bauhaus ist nicht nur ein Gebäudekomplex. Es ist vielmehr eine Kunst-, Kultur- und Architekturschule, die einen eigenständigen, für die damalige Zeit avantgardistischen Stil hervorbrachte. Mit dem Fahrrad lässt sich der etwa siebzehn Kilometer lange Rundkurs (Bauhaus-Tour), der alle sehenswerten Baudenkmäler einschließt, gut bewältigen. Wir sind beeindruckt vom Bauhaus-Gebäude, das nach Plänen von Walter Gropius entstanden ist und den Meisterhäusern, in denen bekannte Künstler wie Paul Ernst Klee und Wassily Kandinsky gelebt und gearbeitet haben. In Sichtweite unseres schönen Stellplatzes im Leopoldshafen liegt das auf dem Elbdeich, im Jahr 1929 errichtete Kornhaus. Auch heute ist es noch ein beliebtes Ausflugslokal, an dessen weitläufiger Terrasse die Elbradler nicht vorbeikommen.
Wir verlassen schweren Herzens Dessau, und vor allem unseren tollen Stellplatz an der Elbe. Auf der nun folgenden Route überqueren wir die Saale und halten weiter auf Magdeburg zu. In Pömmelte lockt uns ein Hinweis auf einen steinzeitlichen Ringwall von der Straße. Das „deutsche Stonehenge“ ist über 4.000 Jahre alt – aber aus Holz. Ein scharfer und böiger Wind unterbindet unsere Ambitionen, mit dem Fahrrad der Elbe weiter zu folgen. Es ist eine der wesentlichen Erkenntnisse auf dieser Tour, dass man stromabwärts häufiger gegen den Wind radeln muss. In Schönbeck finden wir bei der Fahrradmanufaktur „Weltrad“ einen Stellplatz. Die Parkgebühr entfällt, wenn man im angeschlossenen Restaurant isst. Nur „widerwillig“ verzichten wir daher aufs Kochen.
Wir nähern uns dem Ziel unserer Reise. Die letzten Tage wollen wir von einem festen Standort aus, Magdeburg und Umgebung erkunden. Unsere Wahl fällt auf den Sportboothafen in Buckau-Fermersleben. Auf der großen Uferwiese stehen nur wenige Reisemobile. Zugunsten eines Stellplatzes direkt am Wasser verzichten wir auf Landstrom. Die vier Kilometer bis ins Stadtzentrum sind mit dem Fahrrad ein Klacks. Strategisch günstig liegt auf halbem Weg der Biergarten „Mückenwirt“. Ob der Name eine akute Bedrohungslage ausdrücken will, wissen wir (noch) nicht.
Die heutige Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts war im Spätmittelalter eine der größten deutschen Städte. Nach der vollkommenen Verwüstung im dreißigjährigen Krieg wurde Magdeburg zur wehrhaftesten Festung im Königreich Preußen ausgebaut. Nach der Bombardierung im zweiten Weltkrieg ist von der Altstadt, den Gründerzeit-Vierteln und den zahlreichen Sakralbauten nicht mehr viel übrig geblieben. Den Rest erledigten Stadtplaner in der DDR. Alles, was nicht mehr intakt war, wurde abgerissen und durch gesichtslose Zweckbauten ersetzt. Erhalten geblieben sind neben dem Magdeburger Dom noch einige wenige Kirchen sowie Teile der Festungsanlagen. Im Jahr 2005 „spendierte“ der exzentrische Architekt Friedensreich Hundertwasser der Stadt eine weitere Attraktion. Die grüne Zitadelle ist ein skurriler, pflanzenbewachsener Gebäudekomplex mit Geschäften, Restaurant, Café und über fünfzig Wohnungen.
An unserem letzten Tag radeln wir noch einmal elbaufwärts und wechseln für die Rückfahrt nach Magdeburg das Ufer. Auf der anderen Seite empfängt uns eine fast unberührte Natur. Einen derartigen Urwald hätten wir hier in Stadtnähe nicht erwartet. Erst in der Magdeburger City tauchen wir wieder ins urbane Leben ein. Auf der letzten Etappe zu unserem Stellplatz nötigt uns die nachmittägliche Hitze zu einem Boxenstop beim Mückenwirt. Es gibt hier im übrigen nicht mehr Mücken, als anderswo.
Unser Urlaub im eigenen Land ist vorbei. Dass wir unseren ursprünglichen Plan einer Normandie-Reise aufgeben mussten, haben wir an keinem Tag bedauert.