Der kleine Bruder
Ein unbekannter See im Schatten des Lago Maggiore
Ortasee, wo soll der denn sein? Niemand scheint den kleinen See zu kennen. Den benachbarten Lago Maggiore hingegen kennt jeder. Mit seinen zweihundert Quadratkilometern Wasserfläche ist der ja schließlich auch zehnmal so groß. Und dennoch lohnt es sich, die etwas aufwändigere Anreise auf sich zu nehmen, um einen der wenigen „echten Geheimtips“ im Norden Italiens zu entdecken. Der Lago d´Orta wartet im Schatten des „großen Bruders“ geduldig darauf, was der noch für ihn übrig lässt.
Der deutsch-österreichische Schauspieler Carl-Heinz Schroth nannte den Ortasee „den schönsten Platz auf der Welt“ und wählte den kleinen Ort Vacciago an dessen Ostufer als Alterswohnsitz. Wer sich selbst ein Bild davon machen will, der muss erst einmal ein wenig Zeit und Geduld aufbringen. Von der Autobahnabfahrt in Chiasso, an der schweizerisch-italienischen Grenze, sind es noch fünfundsiebzig kurvige Kilometer bis zum kleinen Ortasee. Die Nutzung der kostenpflichtigen Autobahnen verkürzt die Fahrzeit um etwa dreißig Minuten, die Distanz bleibt allerdings ähnlich.
Mich hätte stutzig machen sollen, dass ich auf den vier Kilometern der Autostrada A60, südlich von Varese, ganz allein unterwegs war. Denn, wer eine der lombardischen Autobahnen nutzt, die mit ihrem „Flex Flow – Tarif“ werben, muss sich auf Komplikationen einstellen. Die fälligen Gebühren werden hier nämlich nicht, wie ansonsten in Italien üblich, an einer Maut-Station eingezogen. Bei „Pedemontana“ wird das Kennzeichen fotografiert und man hat anschließend maximal fünfzehn Tage Zeit, den fälligen Wegezoll zu entrichten. Wer das verpasst, muss mit horrenden Strafgebühren rechnen. Der Zahlungswillige wird allerdings ziemlich schikaniert. Mein Versuch einer Registrierung auf der Homepage des Betreibers scheitert ebenso wie das Bezahlen mit Hilfe der App. Mir bleibt nur die aufwändige Suche nach einem „Punto Verde“ und ein Umweg von einhundertfünfzig Kilometer, um in einem kleinen grünen Kiosk eine Gebühr in Höhe von 1,34 Euro zu bezahlen.
Für derartige Umtriebe kann der Ortasee natürlich nichts. Unschuldig und flaschengrün liegt er, eingebettet in die Bergwelt der piemontesischen Alpen, vor mir. An seinem Westufer kleben die Dörfer in solchen Steillagen, dass eine reguläre Verkehrsanbindung eher abwegig erscheint. Eine durchgehende Straße gibt es nur auf dem Ostufer. Sie verbindet die Gemeinden Orta San Giulio und Pettenasco mit Omegna, der größten Ortschaft am See. Wer aber nur das Seeufer abfährt, ist bald fertig mit dem Lago d´Orta und macht sich dann doch auf, ins bekannte Nachbartal.
Orta San Giulio macht schon am Ortseingang mit der im orientalischen Stil errichteten Villa Crespi auf sich aufmerksam. Für einen Besuch der malerischen Altstadt mit ihren Bürgerhäusern aus der Zeit der Renaissance und des Barock sollte man sich ein wenig Zeit nehmen. Nach einer Entdeckungstour durch die verwinkelten Gassen, lohnt eine Pause auf der Piazza Mario Motta, um bei einem Kaffee oder Eis das Panorama der umliegenden Berge zu genießen. Die gesamte Halbinsel mit dem „Sacro Monte“, einer Wallfahrtstätte, die dem Lebenswerk des heiligen Franziskus gewidmet ist, lässt sich zu Fuß in etwa einer Stunden umrunden. Auf diesem Weg bieten sich wunderschöne Ausblicke auf den See und die kleine „Isola San Giulio“ mit ihrer mächtigen Benediktinerinnen-Abtei.
Aber auch Orta San Giulio kann seine touristische Ausrichtung nicht ganz verleugnen. Gleich am Ortseingang vergammelt, direkt am Seeufer, ein Hotel im Rohbaustadium. Es zeugt davon, dass hier offensichtlich ein ambitionierter Investoren-Traum geplatzt ist.
In der Altstadt finden sich reichlich Geschäfte, in denen man zu überhöhten Preisen bunte Nudeln, getrocknete Steinpilze und allerlei „Tinnef“ erwerben kann. Auch auf dem Markt, der seit dem Mittelalter jeden Mittwoch stattfindet, ist das Angebot an regionalen Produkten eher dürftig. Die Auslagen werden von billigen Textilien und Lederwaren beherrscht. Sich hier mit den Dingen des täglichen Bedarfes einzudecken, ist schwierig. Einen Supermarkt gibt es nur im benachbarten Pettenasco.
Die unmittelbar am Seeufer gelegenen Campingplätze meiden wir. Sie werben zwar mit direktem Zugang zum Wasser, sind aber dafür dem Verkehrslärm nahezu schutzlos ausgesetzt. Zu Fuß oder mit dem Fahrrad kommt man hier auch nicht weit. Als Ausgangspunkt für Wanderungen und Mountainbike-Touren viel besser geeignet, sind Plätze oberhalb der Uferregion und in den kleinen Dörfern in der Umgebung. Zudem gewinnen wir den Eindruck, dass jeder Höhenmeter Abstand, die Attraktivität des Sees zusätzlich steigert. Auf unseren Wanderungen durch die dichten Eichen- und Kastanienwälder rund um den Monte Barro oder entlang des Höhenwegs von Miasino nach Ameno wirkt der Lago d´Orta, vor dem Hintergrund der Eisriesen des Monte Rosa Massivs, besonders reizvoll. Es gäbe noch so viel zu entdecken, in dieser herrlichen Bergwelt des Piemont. Wir müssen unbedingt noch einmal wiederkommen. Der kleine See mit seiner unaufgeregten Atmosphäre hat uns in seinen Bann gezogen.
Camping- und Stellplätze
Orta San Giulio
Kostenfreier Stellplatz auf halber Höhe des Sacro Monte, Strada Panorama 1
Camping Cusio, Via Don Giovanni Bosco 5
Pettenasco
Camping Royal, Via Pratolungo 32
Ameno
Kostenpflichtiger Stellplatz, Regione Ciliega