Wasserwege

Wasserwege

Zweite Etappe einer Deutschland-Umrundung

Es beginnt, wo es zuletzt endete. Die Erfahrungen aus der vorangegangenen Episode sind umgesetzt. Beim Gepäck wurde Gewicht eingespart, Mensch und rollendes Material sind in technisch einwandfreiem Zustand. Auch diesmal ist der Weg das Ziel. Es gibt keine Vorgaben nur eine Richtung. Ich bin richtig gespannt auf mein diesjähriges Abenteuer, denn auf mich wartet so etwas wie die Königsetappe – die Südgrenze mit den Alpen. Wie weit ich wohl heuer kommen werde?

Für die Reise zu meinem Ausgangspunkt nach Konstanz nutze ich die Bahn. Mein Tour- Begleiter steht eingezwängt zwischen den Fahrrädern anderer Radel-Touristen und ich ahne, dass es mir wohl wieder gelungen ist, die Bodensee-Region während einer saisonalen Hochdruckphase zu besuchen. Tatsächlich treffe ich pünktlich zu Beginn eines verlängerten, mit guter Wetterprognose versehenen Fronleichnam Wochenende in Konstanz ein. Ich bahne mir einen Weg durch die verdichteten Menschenmassen und den anarchischen Straßenverkehr, hartnäckig verfolgt von der Vision einer menschenleeren Konstanzer Innenstadt an einem regnerisch trüben Novemberwochenende. Schließlich ist es geschafft und ich stehe am Seeufer in der Nähe des Schiffsanlegers – genau an der Stelle, an der ich im vergangenen Jahr die Tour beendet habe. Jetzt kann es losgehen.

Ich überquere die Schweizer Grenze zur eher schmucklosen Konstanzer Nachbarstadt Kreuzlingen. Hier gibt es nicht viel zu sehen und so orientiere mich an der Beschilderung, die mir den Weg nach Romanshorn weist. In meinem Geldbeutel befinden sich noch drei Franken aus dem Vorjahr. Ich habe noch auf deutscher Seite Reiseproviant gebunkert und will während meiner Fahrt entlang des Südufers nicht mehr ausgeben. Vielleicht reicht es ja für eine Flasche Wasser.

Der Radweg orientiert sich an der Bahnlinie, ist asphaltiert und schnurgerade. Dennoch ist volle Konzentration gefordert, denn es herrscht reger Verkehr. Ich komme gut voran, nur vom See ist leider nichts zu sehen. Irgendwie habe ich mir von dieser Routenführung entlang des Schweizer Seeufers mehr versprochen. Auch die Städte Romanhorn, Arbon und Rohrschach sind in meinen Augen nicht annähernd so attraktiv wie Meersburg, Immenstaad oder Friedrichshafen am gegenüberliegenden Nordufer. Und so finde ich mich, viel schneller als ich erwartet hätte, an der Grenze zu Österreich wieder. Keine fünf Stunden habe ich für den Schweizer Anteil an meiner diesjährigen Route benötigt – und die drei Franken habe ich immer noch.

Auf österreichischem Territorium verliere ich in den Flussauen entlang des Altrheins sofort die Orientierung. Das erweist sich allerdings als ausgesprochener Glücksfall, weil ich mit diesem naturbelassenen Auenwald ein idyllisches Kleinod entdecke, das sich wohltuend von den landwirtschaftlich intensiv genutzten Flächen in der Umgebung abhebt. Etwas später überquere ich den in ein künstliches Bett gezwungenen Hauptfluss, kurz vor seiner Mündung in den Bodensee. Es ist ein ziemlich trauriger Anblick, den der Rhein an dieser Stelle bietet.

Mit jedem Kilometer, der mich der Festspielstadt Bregenz näherbringt, verdichtet sich der Verkehr auf der Fahrradroute. Niemals zuvor habe ich auf Fahrradwegen einen derartigen Kolonnenverkehr erlebt. Nach einer kurzen Trinkpause habe ich sogar Probleme, mich wieder in den fließenden Verkehr einzusortieren. Das ist aber nur die Ouvertüre zu dem, was mich in Bregenz selbst erwartet. Folgerichtige meide ich die Innenstadt und folge der Kolonne in Richtung Lindau. An diesem Tag bin auch dort nicht ganz allein. Aber das malerische Städtchen auf der Bodenseeinsel mit dem schönsten Hafen im Bodensee darf man auch unter diesen verschärften Bedingungen nicht links liegenlassen. Auf einem ufernahen Campingplatz finde ich wider Erwarten noch einen Platz zum Zelten. Des großen Andrangs wegen hat man die Spielwiese für Radtouristen freigegeben. Die bis in den späten Abend hinein lärmenden Kinder nehme ich dafür heute gern in Kauf.

Lindau

Am folgenden Morgen bin ich früh im Sattel, um die kühlen Morgenstunden bestmöglich zu nutzen. Der Fernradweg Bodensee-Königssee führt mich ab jetzt auf langen, kräftezehrenden Anstiegen ins Allgäu hinein. Da ist es hilfreich, wenn einem nicht noch zusätzlich die Sonne auf den Pelz brennt. Seitdem ich das Seeufer verlassen habe, bin ich nun vollkommen alleine. Mit jedem erklommenen Höhenmeter verbessert sich meine Stimmung und die Aussicht auf den See. Jetzt am zweiten Tag entwickelt sich diese Tour ganz in meinem Sinn. Eine prächtige Kulisse, tolles Wetter und kaum Menschen – was will ich mehr. Die Kehrseite dieser glänzenden Medaille zeigt sich mir, als sowohl Proviant als auch Wasser zur Neige gehen. Es gibt hier, entlang meiner Route durch das Westallgäu, keine Einkaufsmöglichkeiten. Bezüglich meiner Wasserversorgung bin ich auf die Barmherzigkeit der ansässigen Landwirte angewiesen. In einer Käserei erstehe ich ein Stück der regionstypischen Produkte. Als ich den Alpsee bei Immenstadt erreiche bin ich ziemlich ausgehungert und beschließe, auf dem ortsansässigen 4-Sterne-Luxus-Campingplatz mein Nachtlager aufzubauen. Der abendliche Ausflug in die Allgäuer Gastronomie gerät ganz nach meinem Geschmack. Satt und müde krieche ich in mein Zelt. Ein letzter Blick auf den See nährt die Vorahnung einer Wetteränderung.

In dieser Nacht erlebe ich mein erstes Gewitter im Zelt. Der Gedanke daran, dass mich nur eine dünne Nylonhaut von dem Weltuntergang schützt, ist ziemlich besorgniserregend. Immer wieder kontrolliere ich mit der Taschenlampe das Zeltinnere, aber trotz des sintflutartigen Regens bleibt alles trocken. Der nächsten Morgen zeigt, dass nicht alle Camper soviel Glück hatten. Einige Zelte sind vollgelaufen, andere hat der Sturm komplett zerlegt. Im platzeigenen Café wärmen sich einige durchnässte Camper auf und erzählen haarsträubende Geschichten. So ganz entspannt wie am Vortag fahre ich heute nicht durch die Voralpen. Der Blick wandert immer wieder zum wolkenverhangenen Himmel und Bauern, hinsichtlich ihrer Wetterprognose befragt, weissagen Fürchterliches. In Füssen scheint zwar die Sonne wieder, aber angesichts der düsteren Prophezeiungen quartiere ich mich sicherheitshalber in einem Gasthof ein. Diese Nacht bleibt es trocken und am nächsten Morgen strahlt die Sonne vor weißblauem Hintergrund.

Hab ich ein Glück, dass ich das Schloss Neuschwanstein des bayerischen „Märchenkönigs“ Ludwid II. bereits kenne, sonst müsste ich mich in die Kolonnen der mit Selfie-Sticks bewaffneten Asiaten einreihen. So rolle ich entlang der nördlichen Ausläufer der Ammergauer Alpen, vorbei an Staffel-, Rieg- und Kochelsee Richtung Bad Tölz. Immer wieder überspülen Wasserläufe die Wege. Die Gebirgsbäche können die Wassermassen dieses nassen Frühsommers nicht abtransportieren. Die breiten Mountainbike-Reifen sind hier von Vorteil. Wer beim „Radwaten“ allerdings stehen bleibt, hat verloren. Rechtzeitig vor einer heranziehenden Regenfront erreiche ich das Kurbad an der Isar und quartiere mich in einem Gästehaus ein.

Am nächsten Morgen regnet es. Die Weiterfahrt setze ich unter „Vollschutz“ fort. Gegen Mittag soll sich das Wetter angeblich bessern. Eine weitere Premiere erlebe ich an diesem Tag, als eine E-Bikerin von hinten auf mein Reisgefährt auffährt. Dieser „Kontakt“ bleibt glücklicherweise ohne Folgen. Nicht alle Elektroradler können mit der zusätzlichen Batterie-Power verantwortungsbewusst umgehen. Im Inntal bremst mich eine Reifenpanne aus. Natürlich ist wieder einmal der Hinterreifen platt, alles andere wäre ja zu einfach. An diesem Abend finde ich auf einem Bauernhof bei Nussdorf am Inn ein gutes und preiswertes Quartier.

Nach einer erholsamen Nacht und einem üppigen Frühstück folge ich nun dem Mozart-Radweg Richtung Süden. Ich will ab hier bei unseren österreichischen Nachbarn weiterfahren. Die weitere Routenführung durch Tirol bedarf aber einer sorgfältigen Kartenerkundung, denn bei knapp vierzig Kilo Radgewicht sind Steigungen eine besondere Herausforderung. Aus diesem Grund favorisiere ich Flusstäler. Die Tiroler Grossache führt mich kräfteschonend bis zum finalen Anstieg im Pillersee-Tal. Die unmittelbare Nähe zu den Kitzbüheler Alpen ist in Wade und Oberschenkel deutlich spürbar. Oben auf der Passhöhe in Waidring falle ich in einem Café über ein ziegelsteingroßes Stück Topfenstrudel her. Die Energiezufuhr von bestimmt 5.000 Kalorien kann ich heute nicht mehr in Bewegung umsetzen. Eine Holztafel weist mir den Weg zu einem schönen Einzelzimmer in einem Gästehaus.

Als Ausgangspunkt einer Tagesetappe hat die Passhöhe einen hohen Motivationswert. Mit Genuss rolle ich die zehn Kilometer entlang des Loferbachs bis hinunter nach Lofer. Ab hier hänge ich mich an den Saalbach und winde mich mit ihm gemeinsam bis nach Bad Reichenhall. Auf den knapp zwanzig Kilometern entlang der Bischofswiesener Ache sind bis Berchtesgaden einhundert mühevolle Höhenmeter zu überwinden. Das Wetter verschlechtert sich zusehends. Der Watzmann ist mehr zu erahnen als zu sehen. Den Königssee würde ich noch gerne trockenen Hauptes erreichen. Kurz vor dem Ziel merke ich an der Königsseer Ache noch ein Nachtquartier vor und stehe schließlich vor dem schönsten aller bayerischen Gebirgsseen. Dunkle Wolken ziehen auf, aber ich kann das eindrucksvolle Panorama noch trocken genießen. Als der Regen dann doch einsetzt fahre ich zurück zu meiner vorerkundeten Pension.

Der südlichste Punkt meiner Deutschlandumrundung ist erreicht. Bis Berchtesgaden fahre ich auf derselben Route wie am Vortag wieder nordwärts. Ab hier übernimmt die Berchtesgadener Ache die Führung. Die Orientierung ist nun sehr einfach. Ich muss nur dem Fluss bis kurz vor Salzburg folgen. Die Berge bleiben immer weiter zurück und in der Ferne ist schon das Wahrzeichen, die Festung Hohensalzburg, auszumachen. Von Süden erreiche ich die Mozartstadt und schiebe mein Fahrrad durch die von Touristen beherrschte Altstadt bis zum Ufer der Salzach. Hier beginnt es wieder zu regnen. Aus leichtem Niesel- wird schließlich Starkregen. Die Wetterprognose für die nächsten Tage ist schlecht. An Salzach und Inn gibt es Erdrutsche und Überschwemmungen. Ist das nicht wieder ein Zeichen aufzuhören? Ich beschließe, die große „Pause-Taste“ zu drücken und Salzburg zum Startpunkt der nächsten Episode zu mache.

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