Hart am Wind

Hart am Wind

Mit dem Fahrrad unterwegs an der Ostseeküste von Usedom nach Flensburg

Schon wieder eine Premiere: auf der nächsten Etappe gibt es keine Grenzpfähle, nur Wasser auf der einen und Land auf der anderen Seite. Und noch etwas ist anders. Diesmal spielen Höhenmeter keine Rolle. Es ist der Wind, der sich als ernstzunehmender Gegner ins Spiel bringen soll und der mich, wie ich noch erfahren werde, so manches Mal zermürben wird. Ich bin unterwegs an der Ostseeküste, eintausend Kilometer, von der polnischen Grenze bei Swinemünde bis nach Flensburg.

Auf Usedom ist es mit der Beschaulichkeit, mit der mich der Oder-Neisse-Radweg verwöhnt hat, endgültig vorbei. Es ist Mai, es sind keine Schulferien oder Brückentag-Wochenenden und dennoch ist es äußerst mühsam, sich einen Weg durch die Menschenmassen, die den Küstenweg zwischen der polnischen Grenze und Ahlbeck bevölkern, zu bahnen. Zwischen den mondänen Kaiserbädern gelingt mir dann endlich die Flucht ins Inselinnere. Hier geht es etwas ruhiger zu, denn offensichtlich kennen die meisten Inselbesucher nur die Touristenhochburgen an der Nordküste. Kaum ein Mensch begegnet mir auf meinem Weg durch Korswandt, Zirchow, dem Städtchen Usedom und Karnin. Auf der kleinen Elektrofähre, die mich zurück auf das Festland bringt, bin ich allein.

Und recht bald werde ich mit einer weiteren Neuerung konfrontiert. Es ist nicht mehr so einfach, wie bisher, einen Platz für die Nacht zu finden. Auf die sogenannten Freisteher wird regelrecht Jagd gemacht und die legalen Parkmöglichkeiten sind wohl die teuersten der Republik. Ganz abgesehen davon, dass viele davon überfüllt sind. Insgesamt ist das ein ernüchternder Start in diese Episode.

Als ich im Jahr 2008 zum ersten Mal den Ostseeküsten-Radweg entlang geradelt bin, wirkte alles noch ein wenig provisorisch und es war definitiv billiger. Am Wegesrand standen häufig die alten NVA-Feldküchen, aus denen schmackhafte Soljanka an hungrige Radler und Wanderer ausgegeben wurde. Es war nicht perfekt, aber es hatte aber einen Charme. Ich nehme es vorweg: Ich habe keine einzige NVA-Feldküche mehr gesehen und nichts im Norden Mecklenburg-Vorpommerns wirkt noch improvisiert.

Der Küstenradweg führt nicht wirklich an der Küste entlang. Nur hin und wieder gönnt er den Reisenden einen kurzen Abstecher ans Wasser, um sie dann wieder ins Hinterland zu führen. Es muss reichen, die Ostsee von weitem zu sehen oder auch nur erahnen zu können.

Das ehemalige Atomkraftwerk Lubmin, dessen Rückbau bereits vor fünfzehn Jahren in vollem Gange war, ist noch immer nicht vollständig abgerissen. Im Hintergrund liegt ein riesiges Schiff, das zur Vergasung von Flüssiggas gechartert worden ist. An dieser Stelle sollte eigentlich Erdgas ankommen, das Russland durch die Nordstream-Pipeline nach Europa schicken wollte. Ein Prestige-Projekt deutscher Politik hat sich quasi aufgelöst.

Einige Kilometer weiter schält sich die städtische Silhouette von Greifswald aus dem Dunst. Es ist ein Anblick, der ein wenig an den berühmtesten Sohn der Stadt, Caspar David Friedrich erinnert. Er hat dieses Motiv als Hommage an seine Heimatstadt in einem seiner Gemälde verwendet. Greifswald ist auch eine junge Stadt. Ein Umstand, der nicht zuletzt auf die vielen Studenten zurückzuführen ist, die heute das Stadtbild beleben.

Die Passage in die etwas mondänere Hansestadt Stralsund ist wegen des vorherrschenden mörderischen Kopfsteinpflasters eine echte Herausforderung für Mensch und Material. Als Entlohnung für dieses Martyrium suche ich die alte Fischhalle auf, deren Fisch-Soljanka ich noch in guter Erinnerung habe. Leider muss ich feststellen, dass der enorme Zuwachs an Touristen auch hier seine Spuren hinterlassen hat. Ich bin froh, wenigstens ein Fischbrötchen ergattern zu können. Die Zeiten, in denen ein Bismarck-Hering mit Gurke und Zwiebeln, eingeklemmt zwischen zwei Brötchenhälften, für Zweifuffzich zu haben war, sind auch vorbei.

Die Boddenküste zwischen Stralsund und Graal-Müritz mutet eigentlich eher wie ein Seeufer an. Die flachen Gewässer werden durch die vorgelagerte Dreier-Halbinsel Fischland-Darß-Zingst von der Ostsee abgeschirmt. Das eigentliche Küsten-Feeling erlebt erst, wer die Meinigenbrücke überquert und sich nach Zingst oder Prerow durchkämpft. Hier wird’s dann teuer, sobald man vom Fahrrad steigt. Der hochpreisige Tourismus hat die Orte fest im Griff. Ein Fischbrötchen kostet hier bereits sieben Euro. Auf den Radwegen, die die Strände an der Nordküste miteinander verbinden, wird Kolonne gefahren.

Das Sahnestück der Halbinsel ist mit dem Auto nicht zu erreichen. Wer den Darßer Ort und den wilden Weststrand sehen möchte, der muss einen langen Ritt auf holprigen und stellenweise sandigen Waldwegen auf sich nehmen. Die Belohnung ist Robinson Feeling in einer urwüchsigen Küstenlandschaft. Der knapp fünfzehn Kilometer lange, weiße Sandstrand mit den vom Wind gebeugten Kiefern gehört zu den schönsten Stränden Europas. Es gibt keine Imbissbuden, keine Strandkörbe, man muss wirklich alles selber mitbringen – traumhaft.

Auf der angrenzenden Landverbindung Fischland ist wieder alles wie gehabt. Die ehemaligen Fischerdörfer mit ihren hübschen Häuschen werden von Touristen überrannt. Überall wird touristischer Tinnef und überteuerte Erfrischungen feilgeboten. Zügig stemme ich mich dem böigen Wind entgegen und lasse die Seeheilbäder Dierhagen und Graal-Müritz auch im sprichwörtlichen Sinne links liegen.

Eine Fähre bringt mich von der Hohen Düne hinüber nach Warnemünde. Weithin sichtbar, ist das Hotel Neptun, Sinnbild des DDR Überwachungsstaates. Die Zimmer von Besuchern aus dem Westen seien verwanzt gewesen, heißt es. Der Volksmund hatte den 19-stöckigen Betonklotz „Stasi-Hotel“getauft. Sehr hübsch anzuschauen hingegen sind die alten Kapitänshäuser, die das Ufer des Alten Strom säumen. Von meinem privaten Stellplatz an der Warne kann ich die zahlreichen Fährschiffe beobachten, die Rostock mit zahlreichen Zielen in Skandinavien und im Baltikum verbinden.

Hinter Warnemünde verläuft der Ostsee-Radweg tatsächlich direkt an der Küste. Mein Fahrrad-Navi kündigt den „Gespensterwald“ an. Ich habe keine Vorstellung davon, was mich erwartet, bis der Weg vor mir in einem tunnelartigen Dickicht verschwindet. Bizarr geformte Bäume säumen einen Pfad, der sich durch den düsteren Mischwald schlängelt. Es ist still hier, selbst die Meeresbrandung ist nicht zu hören. Fast bin ich froh, als mir eine Frau mit Hund begegnet.

Die Bäume des Nienhäger Forstes, so der korrekte Name des Gespensterwaldes, verdanken ihr pittoreskes Aussehen der feuchten, salzhaltigen Luft und dem ständigen Seewind. So schnell wie er kam, so schnell ist der Spuk auch wieder vorbei. Nach einer engen Kurve haben mich das Tageslicht und die Meeresbrandung wieder.

Ich erinnere mich noch an den ersten, damals noch G8-Gipfel, während der Kanzlerschaft von Angela Merkel. Der fand in der vornehm gestalteten Hotelanlage im Ostseeheilbad Heiligendamm statt. Im Gegensatz zu damals, als alles weiträumig abgesperrt war, rolle ich jetzt unmittelbar an den etwas protzigen Bauten vorbei. Das Kurbad ist seinen erholungsbedürftigen Gästen längst zurückgegeben. Man flaniert an der Promenade und ist wohl gerne unter seines- und ihresgleichen. Als Radwanderer gehöre ich in Heiligendamm und den folgenden Ostseebädern Kühlungsborn und Rerik jedenfalls nicht zur primären  Zielgruppe der Tourismusverantwortlichen.

Südwestlich von Rerik wird die Ostseeküste wieder etwas authentischer und „volkstümlicher“. Die Route führt fernab der Küste durch kleine Dörfer. Wer auf Höhe Boiensdorf nach einem Platz für die Nacht sucht, dem sei der Campingplatz „Möwe“ auf der winzigen Halbinsel Boiensdorfer Werder empfohlen. Ein preiswerte Übernachtung und ein origineller Platz für einen Sundowner mit Meerblick ist hier garantiert.

Wer Zeit hat, sollte auch der Insel Poel einen Besuch abstatten. Hier verdichtet sich der Tourismus zwar wieder spürbar, aber die Insel ist groß genug, um dem Trubel aus dem Weg gehen zu können. Vom Hafen in Kirchdorf ist mein nächstes Ziel, die Hansestadt Wismar bereits gut zu erkennen.

So beschaulich wie bei meinem ersten Besuch ist Wismar leider nicht mehr. Aber die kleine Hansestadt hat dennoch nichts von ihrem Charme eingebüßt. Die Altstadt mit ihren zahlreichen historischen Gebäuden zeugt von einer wechselvollen Geschichte, in der die UNESCO Welterbe-Stadt von schwedischer zu dänischer, dann wieder zu schwedischer Herrschaft wechselte. Letztere endete formal erst im Jahre 1903. Neben den vielen geschichtlichen und kulturellen Preziosen gibt es in Wismar zudem noch, die meiner Ansicht nach, besten Fischbrötchen, frisch vom Kutter.

Am Klützer Winkel vorbei nähert sich der Ostsee-Radweg langsam der ehemaligen innerdeutschen Grenze. An den ausgesetzten Stellen der Steilküste heißt es auf Info-Tafeln, dass die Menschen von hier aus sehnsüchtige Blicke auf die zum Greifen nahe, aber dennoch unerreichbare Küste Schleswig-Holsteins geworfen hätten. Auf der Halbinsel Priwall manifestierten unüberwindbare Sperranlagen die Teilung Deutschlands, von denen nur noch ein Wachturm übergeblieben ist. An dieser Stelle nimmt auch der Radwanderweg „Das Grüne Band“ seinen Anfang, der die ehemalige innerdeutsche Grenze entlangführt. Hier der Link zum Beitrag: https://seorsum.blog/unternehmen-reissverschluss/

Vom Priwall bringt mich eine Fähre hinüber nach Travemünde. Der Skandinavien-Kai ist Ausgangs- und Zielort vieler Fährverbindungen nach Skandinavien und in das Baltikum. Entsprechend groß ist auch der Verkehr durch den ich mich durchschlängeln muss. Erst jenseits der Trave-Mündung und den langen, mit Strandkörben gespickten Stränden, wird es etwas ruhiger. Von Beschaulichkeit kann aber nicht die Rede sein, denn in der Lübecker Bucht reihen sich die Küstenbäder aneinander. Timmendorfer Strand und Scharbeutz sind die bekanntesten. An den Strandpromenaden ist Hochbetrieb, auch außerhalb von Feiertagen und Ferien. Wenn ich nahe dem Wasser bleiben will muss ich mein Rad schieben.

Ab Neustadt in Holstein wird es vorübergehend ein wenig einsamer. Ich umfahre das Ostseebad Grömitz und erlebe kurz nach Dahme ein wunderschönes Stück Steilküste. Es ist ein Küstenwald, der einen naturbelassenen und menschenleeren Strand säumt. Aber schon bald erlebe ich die grobe Unart der Privatisierung von Uferabschnitten. Der Radweg umgeht einen längeren Strandabschnitt, der in Privatbesitz ist und blickdicht abgeschirmt wird. Ob an der Ostsee oder am Starnberger See, es dürfte kein Privileg der Reichen sein, sich die schönsten Landstriche zu sichern und der Allgemeinheit den Zutritt zu verwehren. Erst bei Großenbrode hat das Bürgertum wieder vollumfänglich Zutritt zur Ostsee.

Wie schon zuvor Rügen, lasse ich auch Fehmarn aus. Es würde den Rahmen meiner Tour sprengen, auch noch alle deutschen Inseln abzuklappern. Also schwenke ich, nach einem Blick auf die Fehmarnsund-Brücke, wieder westwärts, den frischen bis böigen Ostwind ausnahmsweise im Rücken. Hinter Heiligenhafen muss ich einen großen Bogen um den Truppenübungsplatz Putlos machen. Das ist schade, den hier gäbe es ein urwüchsiges Stück Küstenlandschaft zu bewundern.

Kontakt zum Ufer finde ich wieder in Schönberg-Strand. Es ist anders hier: keine monumentalen Hotelbauten und keine Menschenmassen auf mit Boutiquen und Andenkenläden bepflasterten Promenaden. Der Strand ist mit weißem Sand bedeckt, das Wasser ist klar und türkisfarben. Im Ortsteil Brasilien lasse ich mich für die Nacht nieder.

Die Kieler Bucht bietet wieder das gewohnte Bild. Grund genug also, von Laboe aus mit der Fähre auf die gegenüberliegende Seite überzusetzen. Das spart viel Zeit, die nun bleibt, um das vielleicht schönste Wegstück an der schleswigholsteinischen Küste genießen zu können.

An der Landspitze bei Bülk, mit dem grünweiß geringelten Leuchtturm nimmt eine Steilküste ihren Anfang, die ich als „Kleine Normandie“ bezeichnen möchte. Teilweise reicht der Wald bis an die Klippen, die abrupt zum steinigen Ostseeufer abfallen. Dann wieder schlängeln sich schmale, nicht fahrbare Pfade am Küstensaum entlang. Immer wieder muß ich weggebrochene Teilstücke umgehen und bin froh darüber, die gewonnene Zeit hier sinnvoll einsetzen zu können. 

Die Eckernförder Bucht lässt sich nicht mit der Fähre überqueren. Ich muss sie komplett umfahren. Von weitem kann ich später die Hotelbunker des Seebades Damp ausmachen und so rechtzeitig ausweichen. Ich habe einfach keine Lust mehr, auf ein weiteres Epizentrum des Massentourismus. Vorzugsweise reihe ich mich in Kappeln geduldig in die Reihe der Wartenden vor der Klapp-Brücke an der Schlei. Anschließend begehe ich allerdings den Fehler, dem Abzweig nach Maasholm auf der Halbinsel in der Schlei-Mündung zu folgen. Dort herrscht der Ausnahmezustand. Stau vor den Parkplätzen, Warteschlangen vor den Ausflugsschiffen, vor jeder Imbissbude und Eisdiele. Mir bleibt nur die Flucht.

Vor der letzten Etappe schöpfe ich noch Kraft auf dem Hof Dollerupholz. Den Namen habe ich mir nicht ausgedacht oder der Augsburger Puppenkiste entliehen, der heißt tatsächlich so. Zwischen roten Angus-Rindern, Pferden, Schafen und Hühnern lässt es sich hervorragend entspannen.

Das letzte Wegstück des Ostsee-Radweges führt mich zunächst nach Glücksburg mit seinem bekannten Wasserschloss. Der Renaissance-Bau aus dem 16. Jahrhundert gehört zu den bedeutendsten Schlossanlagen Nordeuropas.

In Richtung Flensburg schließt sich das Twedter Holz an, ein überraschend weitläufiges Waldgebiet, in dem es nicht ganz einfach ist, die Orientierung zu behalten. Erst kurz vor Solitüde, einem Vorort von Flensburg, erreiche ich die Förde. Vorbei an zahlreichen Yachthäfen gelange ich schließlich an den Flensburger Stadthafen, und damit ans Ziel meiner Reise. Die Innenstadt scheint fest in dänischer Hand. Flensburg ist nicht nur Zentrum der dänischen Minderheit in Südschleswig, unsere nördlichen Nachbarn kommen auch gerne zum Einkaufen in die Stadt.

In Flensburg endet meine Reise auf dem Ostsee-Radweg. Auf den etwa eintausend Kilometern habe ich sehr unterschiedliche Küstenlandschaften kennengelernt. Es war auch eine neue Erfahrung, rechts neben mir nicht die Grenze zu einem Nachbarland zu haben. Überall, vor allem in Schleswig-Holstein bin ich äußerst freundlichen und hilfsbereiten Menschen begegnet. Allerdings musste ich die Erfahrung machen, dass insbesondere hier die Ostseeküste für Radwanderer wie mich nicht so geeignet ist. Die Radwege führen häufig abseits der Küste durchs Hinterland, und das zumeist entlang von stark befahrenen Straßen. Und eine weitere, bittere Erfahrung musste ich machen: die Ostseeküste gehört zu den teuersten Urlaubsgebieten Deutschlands.

Kommentar verfassen

Consent Management Platform von Real Cookie Banner