Zwei-Fluss-Land

Zwei-Fluss-Land

Mit dem Fahrrad unterwegs vom Zittauer Gebirge bis zur Ostsee

„Früher war das strengstens verboten“, erklärt mir der alte Mann mit dem etwas zerfledderten Strohhut. Er zeigt auf meine Kamera, mit der ich gerade den Grenzübergang nach Polen fotografiert habe. Es wäre zwar ein „sozialistischer Bruderstaat gewesen“, meint er, aber man habe sich dennoch nicht über den Weg getraut. Sie sind schon etwas Besonders, unsere östlichen Außengrenzen. Auch die zu Polen, wie ich noch erfahren werde.

Ich bin wieder unterwegs an Deutschlands Außengrenzen. Vom Zittauer Gebirge habe ich mich aufgemacht, um entlang der Neiße und der Oder die Grenze zu unserem östlichsten Nachbarn Polen zu „erfahren“. Mein Ziel ist das Ostseebad Ahlbeck auf Usedom. Dazwischen liegen knapp sechshundert Radel-Kilometer.

Das Dreiländereck Tschechien, Polen und Deutschland liegt etwa fünf Kilometer südlich von Zittau. Drei Flaggen, ein Gedenkstein und ein paar Sitzbänke markieren den Startpunkt meiner diesjährigen Etappe. Im strömenden Regen begleitet mich die begradigte Neiße zunächst in die alte Tuchmacherstadt Zittau, die – wie so viele Städte an der Grenze zu Polen – nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre frühere Größe und Bedeutung nicht wiedererlangen konnte. So wirkt auch die Stadtentwicklung irgendwie halbherzig und zögerlich. Es gibt schöne Plätze und schmucke Gebäude, dazwischen aber jede Menge Verfall und Leerstand.

Der Oder-Neiße-Radweg ist ein ausgewiesener Fernradweg. Anders als im Vorjahr brauche ich mich nicht zu orientieren und muss nur der Beschilderung folgen. Wegen des andauernden Regens noch zu Fuß, überwinde ich den Streckenabschnitt nördlich von Zittau, wo leider ein unansehnlicher Braunkohle-Tagebau auf polnischer Seite das Panorama dominiert. Erst bei Hirschfelde führt mich die Neiße in ein enges Tal, das idyllischer nicht sein könnte. Es ist absolut still und ich bleibe allein, bis nach einer Flussbiegung das alte Zisterzienser-Kloster Marienthal auftaucht.

Der Regen hat nachgelassen. Jetzt endlich kommt das Fahrrad zum Einsatz. Die Landschaft wird flacher und ist mit Seen gespickt, die ihre Existenz der Rekultivierung des Braunkohle-Tagebaus verdanken. Am Wegesrand erinnern zahlreiche Industriedenkmale an die frühere Bestimmung dieser Region.

In Görlitz wird schnell deutlich, warum die historische Altstadt der östlichsten Stadt Deutschlands häufig als Filmkulisse genutzt wird. Von Zerstörung im Zweiten Weltkrieg weitgehend verschont, vereinen sich hier alle wesentlichen mitteleuropäischen Baustile zum flächenmäßig größten Baudenkmal unseres Landes. Die ehemaligen Stadteile auf dem Ostufer der Neiße bilden heute das polnische Zgorzelec. Beim Überqueren der Brücke, die beide Städte miteinander verbindet, werde ich den Eindruck nicht los, dass mit der Grenzziehung nach dem Krieg, die östlichen Stadteile auch von einer Lebensader abgeschnitten worden sind. Zu groß ist der Unterschied zwischen dem prächtigen Görlitz und dem ärmlich wirkenden Zgorzelec.

Das Wetter wird immer besser und die Oberlausitz immer flacher. Zunehmend beherrschen ausgedehnte Kiefernwälder die Vegetation. Ich versuche mich an dem polnischen Pendant des Oder-Neiße-Radweges und stelle fest, dass der nur dann gut befahrbar ist, wenn er mit EU-Mitteln finanziert worden ist. Ansonsten sind es bucklige Feld- und Waldwege. Aus diesem Grund wechsle ich in der “ Geheimen Welt von Turisede“, einem grenzüberschreitenden Freizeitpark, wieder auf das deutsche Ufer.

Auf meiner weiteren Reise durch die Lausitzer Auenwälder setzt sich bei mir die Erkenntnis fest, möglichst frühmorgens auf den Pedalen zu sein. Denn bis zehn Uhr haben die zahlreichen Radtouristen ihr Frühstück beendet und bevölkern die Piste – ein Nachteil bei beliebten Radfernwegen. Zudem lerne ich, die zahlreichen Sperrungen und Umleitungshinweise für Radfahrer zu ignorieren. Die entsprechenden Schilder wurden offensichtlich nur vergessen, denn einen Grund für die Ableitungen auf die stellenweise vielbefahrenen Landstraßen gab es in keinem Fall.

Bad Muskau, mit seiner Hauptattraktion dem Fürst-Pückler-Park, kenne ich bereits von früheren Reisen. Mein diesjähriges Ziel ist deshalb nicht der Landschaftspark auf dem Westufer sondern der deutlich größere Teil auf polnischer Seite. Dessen besonderer Reiz ist seine Naturbelassenheit, die in Teilen einem Urwald gleichkommt. Außerdem tummeln sich hier nicht so viele Menschen, wie im Schlosspark auf der gegenüberliegenden Seite. Es ist ein Ort der Ruhe, der ein Gefühl der Abgeschiedenheit vermittelt.

Entlang des Neiße-Ufers fällt auf, was nicht da ist: es gibt kaum Brücken. Zahlreiche Ruinen deuten daraufhin, dass nach dem Krieg offensichtlich kein Interesse daran bestand, frühere Verkehrswege wiederherzustellen. Die Wirtin der Imbiss-Scheune in Zelz erzählt mir, dass man selbst neue Brücken durch Barrieren teilweise wieder für den Autoverkehr unbrauchbar macht. „Man wolle der grenzüberschreitenden Kriminalität keine Fluchtmöglichkeiten schaffen“. Ein weiterer Hinweis auf etwa sechs Wolfsrudel in den umliegenden Wäldern macht mich dann doch ein wenig unruhig. Auf meine Frage nach Verhaltensmaßregeln bei Begegnungen antwortet sie:“ Nicht versuchen wegzulaufen und laut singen.“

Im brandenburgischen Forst halte ich mich nicht lange auf. Eine Fotowand dokumentiert den Verfall einer vormals schönen und wohlhabenden Kleinstadt – aber das ist lange her. Auf halbem Weg nach Guben quetscht sich der Neiße-Radweg zwischen dem Fluss und dem Braunkohle-Tagebau Jänschheide hindurch. Hier wird der Rohstoff für eine „saubere“ Energiegewinnung abgebaut – wie ein großformatiges Plakat verspricht. Es ist eine wahre Mondlandschaft, auch wenn die Abraumhalden hinterher rekultiviert werden.

Die Kleinstadt Guben wirkt zwar nicht ganz so trostlos wie Forst, aber auch hier vermag ich den Prozess der Stadtentwicklung nicht zu durchdringen. Es gibt innerstädtisch einige wenige, wunderschön restaurierte Villen und Gebäude. Aber das Bild prägen viele, dem Verfall preisgegebene Baudenkmäler, Industrie-Ruinen und große Brachen. Und immer wieder das Schild: Wohnung sucht Mieter – angesichts des enormen Wohnungsmangels in unserem Land eigentlich eine verkehrte Welt.

Bei Ratzdorf übergibt die Neiße ihre Rolle als Grenzfluss an die Oder. Der breite Fluss lässt nun auch die Grenze etwas unüberwindlicher erscheinen. Brücken sind hier noch seltener als an der Neiße, ein Wechsel zwischen den Ufern wird noch schwieriger.

Aber auch hier an der Oder ist es die Landschaft, die mich begeistert. So trist wie manche Ortschaften auch sein mögen, die Natur entlang der Flüsse entschädigt für diese urbane Trostlosigkeit. In den struppigen, undurchdringlichen Wäldern und Flussauen hat sich eine tierische und pflanzliche Artenvielfalt erhalten, die als Gewinner aus dieser geografischen Randlage hervorgeht.

Etwa drei Kilometer abseits des Radweges liegt die barocke Klosteranlage Neuzelle. Dass ich mich zu deren Besichtigung entsschließe, hat nichts mit der Brauereibesichtigung und der anschließenden Bierverköstigung zu tun.

Die Liste der weltweit hässlichsten Städte wäre ohne Eisenhüttenstadt nicht vollständig. Die sozialistische Planstadt wurde an das mittelalterliche Städtchen Fürstenberg „angeflanscht“ und gilt als das größte Freiflächendenkmal Deutschlands. Auf mich wirkt die DDR-Monumentalarchitektur mit ihrer radikalen Zweckorientierung nur bedrückend. Vorbei an zahlreichen „Lost Places“ (ein Paradies für Geocacher) rolle ich weiter nordwärts.

Zügig geht es auf und hinter dem Deich Richtung Frankfurt an der Oder. Nur selten lassen die dichten Uferwälder einen Blick auf den Fluss zu. Zehn Kilometer vor der Stadtgrenze zieht sich der Radweg völlig von der Oder zurück und orientiert sich an der Straße. Aber auch hier gibt es gelegentlich wunderschöne Ausblicke und die Morgenstimmung an einem Fluss ist einfach etwas ganz Besonderes.

Frankfurt (Oder) wurde im Zweiten Weltkrieg nahezu vollständig zerstört. Nur wenige historische Gebäude wurden wieder aufgebaut. Das Stadtbild prägen überwiegend Neubauten in der für die DDR typischen Plattenbauweise. Die Neugründung der Europa-Universität Viadrina förderte studentisches Leben und die Geburtsstadt Heinrich von Kleists wirkt – bei aller architektonischen Einfallslosigkeit – jung und lebendig.

Zum ersten mal auf meiner diesjährigen Tour weiß ich, wo ich die nächste Nacht verbringen werde: beim Oderfischer in Küstrin-Kietz. Kurz nach Lebau durchquert der Oder-Radweg das Schlachtfeld der Seelower Höhen aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein Abstecher auf einen kleinen Höhenzug über dem Oderbruch führt mich zu dem alten Ort Klessin, den es so nicht mehr gibt. Er wurde während der Kämpfe im Frühjahr 1945 vollständig zerstört. Auf den Grundmauern des gleichnamigen Schlösschens ist durch aufwändige ehrenamtliche Arbeit eine wirklich beeindruckende Gedenk- und Erinnerungsstätte „Kriegsschauplatz Schloss Klessin“ entstanden.

Auch von der Festung Küstrin ist nach dem intensiven Beschuss durch die Rote Armee nicht viel übriggeblieben. Ein großes Plakat verspricht eine umfassende Restaurierung, die sich aber nur auf die Stabilisierung einiger Außenmauern beschränkt. Wer dem Hinweis „Zur Altstadt“ folgt, findet lediglich einen Feldweg, der an einigen Mauerresten vorbeiführt. Eine weitere Enttäuschung erwartet mich beim Oderfischer. Es gibt nach der Umweltkatastrophe noch immer keine fischbaren Bestände. Es wird also nichts mit dem Zander, auf den ich mich gefreut hatte.

Das Oderbruch ist ein Feuchtgebiet, in dem der Fluss mit all seinen Nebenarmen und Kanälen wie ein riesiger Binnensee wirkt. Auf annähernd Meereshöhe hat er hier nur noch eine sehr geringe Fließgeschwindigkeit und macht die Region anfällig für Hochwasser. Besonders verheerend war die Oderflut im Sommer 1997. Nach sintflutartigen Regenfällen konnten die Deiche damals dem Wasserdruck nicht mehr standhalten und brachen an vielen Stellen. Weite Gebiete und viele Dörfer auf beiden Seiten des Flusses wurden überflutet. Zahlreiche Gedenktafeln entlang des Radweges erinnern an diese Katastrophe – an das „Jahrtausendhochwasser“, wie es die Polen nennen.

Sein heutiges Aussehen erhielt das Oderbruch erst Mitte des 18. Jahrhunderts durch die sogenannte „Friderizianische Trockenlegung und Besiedlung“. Den Abschluss dieses Mammutprojektes kommentierte der Preußenkönig Friedrich II mit den Worten: „Ich habe im Frieden eine Provinz erobert.“ Dank ihm kann ich jetzt radeln, wo es zuvor nur Sumpf gab. Zudem habe ich heute das Glück, neben der einzigen, noch erhaltenen Bockwindmühle im Märkisch Oderland übernachten zu dürfen.

Zwei Wochen bin ich mittlerweile unterwegs. Es ist Pfingsten. Die ersten zwei Stunden morgens ist das Radeln noch schön, dann fluten die Tagestouristen die Oderdeiche. Nahezu jedes zweite Auto kommt aus Berlin. Viele besuchen den Polenmarkt bei Hohenwutzen. Der hat auch über die Feiertage geöffnet. Die erzkatholischen Polen sind da „erfrischend pragmatisch“.

Das letzte Wegstück, an dem die Oder noch Grenzfluss zwischen Polen und Deutschland ist, führt durch den Nationalpark „Unteres Odertal“. Einige der Besucher tragen Tarnkleidung und sind mit riesigen Teleobjektiven „bewaffnet“. Sie treten in Zweierteams auf – wie bei Scharfschützen. Einer beobachtet das Gelände mit dem Fernglas und der andere „schießt“. Die Vogelwelt, die hier wirklich außerordentlich artenreich ist, lässt dies alles unbeeindruckt. Die Wege, die durch die ausgedehnte Sumpflandschaft führen sind allerdings mörderisch und erinnern mich sehr an die holprigen Grenzerwege am Grünen Band der ehemaligen innerdeutschen Grenze.

Die Nationalparkstadt Schwedt hat ein paar ganz nette Ecken, aber der intensive Spritgeruch der von der Raffinerie ausgeht, lässt mich schnell das Weite suchen. Es bleibt dabei: die Städte sind nicht das Reizvolle in der Region, es ist (und bleibt) die Landschaft. Und in die tauche ich nach Schwedt wieder ein.

Kurz nach Mescherin muss ich mich von der Oder verabschieden. Die Grenze schwenkt abrupt westwärts und die Oder wird polnisch. Es ist ein Resultat der stalinistischen Westverschiebung nach dem Krieg, denn die Hafenstädte Stettin und Swinemünde sollten polnisch werden. Der offizielle Oder-Neiße-Radweg strebt jetzt Stettin zu und ich muss mir meinen Grenzweg – wie gehabt – selber suchen. Gut ausgebaute und beschilderte Radwege gibt es nun nicht mehr.

Mit Karte und Kompass, im munteren Zickzack zwischen Polen und Deutschland hin und her, bahne ich mir meinen Weg Richtung Küste. Mal eine polnische Landstraße, dann ein Waldweg, dann eine ehemalige Bahntrasse – die letzten Kilometer sind eine echte Herausforderung. Bei Rieth habe ich dann den ersten Kontakt zum Stettiner Haff.

Bis zu meinem Ziel wäre es jetzt eigentlich nicht mehr weit, aber auf dem Landweg müsste ich einen riesigen Umweg in Kauf nehmen. Am Strand von Ueckermünde sieht es zwar schon aus wie an der Ostsee, aber die wartet erst jenseits der Insel Usedom auf mich. Ich muss also das Haff überqueren.

Es sind nur wenige Fahrgäste, die auf der kleinen Barkasse Platz finden. Die Fahrräder werden an der Reling vertäut und auf den Rat des Kapitäns entfernen wir alles, was nicht nass werden darf. Kurz nach Verlassen des geschützten Hafens von Ueckermünde wird klar, dass dies ein wirklich guter Hinweis gewesen ist. Der böige Wind peitscht die Wellen gegen das kleine Schiff und Wasserfontänen ergießen sich über dessen Bug – und über unsere Fahrräder. „Es sei nur Süßwasser“, will uns der Schiffsführer beruhigen. Am Zielhafen in Kamminke muss ich mein Fahrrad erst einmal gründlich trockenreiben. Der Staub der bisherigen Reise ist aber weg.

Das Finale auf Usedom ist kurz. Nur zehn Kilometer sind es, quer über die Insel und zum Teil auch durch die eher unansehnlichen Außenbereiche von Swinoujście (Swinemünde), bis zu meinem Ziel. Einen kurzen Dünenpfad schiebe ich mein Fahrrad zwischen die beiden letzten Grenzpfähle und bin am…

Ziel

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