Untergegangene Dörfer

Untergegangene Dörfer

Dritte Etappe einer Deutschland-Umrundung

Der Beginn der diesjährigen Etappe ist vielversprechend. Anders als im Jahr zuvor, als mich sintflutartige Regenfälle in Salzburg zum Abbruch der Tour gezwungen haben, wölbt sich nun ein wolkenloser Himmel über der Mozart-Stadt. Eine wesentliche Änderung der Tour-Modalitäten ist, dass ich dieses Mal versuchen werde, mein Reisemobil als wetterunabhängige Basis in das Projekt einzubinden. Ich muss dann zwar immer an den Startpunkt der Tages-Etappen zurückkehren, habe aber ein sicheres Quartier und – weniger Gepäck.

Nach der Anreise verbringe ich die erste Nacht auf dem Paulbauernhof in der Nähe von Freilassing. Auf der Streuobstwiese sind Stellplätze für etwa ein Dutzend Wohnmobile eingerichtet. Acht Euro kostet die Übernachtung und für zwei Euro Aufpreis gibt es Strom. Das belastet die Reisekasse nicht über Gebühr. Im hofeigenen Laden kann sich der Reisende zudem mit den Erzeugnissen aus der Milchwirtschaft versorgen. Das neue Tour-Konzept sammelt die ersten Pluspunkte.

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Stellplatz auf dem Bauernhof

Mit etwas Wehmut kehre ich morgens dem Alpenpanorama den Rücken zu und folge der Salzach in Richtung Norden. Dichter Wald säumt den träge dahinfließenden Grenzfluss. Der ufernahe Radweg ist schnurgerade und nicht besonders aufregend. Erst Oberndorf bietet eine willkommene Abwechslung. Das ansehnliche österreichische Grenzstädtchen lädt überdies zum zweiten Frühstück ein. Anschließend tauche ich erneut in eine grüne Eintönigkeit ein, die mich erst in Burghausen wieder freigibt. Meinen Plan, von hier aus mit der Bahn wieder zum Ausgangspunkt zurückzufahren, muss ich aufgeben. Die auf meiner Karte ausgewiesene Bahnlinie entpuppt sich als Güterverkehr-Anschluss. So muss ich wohl oder übel die fünfzig Kilometer wieder zurückradeln. Dabei habe ich wenigstens das Alpenpanorama wieder vor Augen.

Am folgenden Tag verlege ich meine Basis auf einen hübschen kleinen Campingplatz bei Marktl am Inn. Von hier aus sind es nur fünfzehn Kilometer bis Burghausen, dem Etappenziel vom Vortag. Das kommt insbesondere meiner geschundenen „Mensch-Fahrrad-Schnittstelle“ zugute, die doch sehr unter dem Tour-Auftakt gelitten hat. Außerdem wollte ich mir die weltlängste Festungsanlage der Welt auf keinen Fall entgehen lassen.

Ab Kirchdorf übernimmt der Inn von der Salzach die Rolle als Grenzfluss. An der etwas eintönigen Routenführung ändert das leider wenig. Bis zum heutigen Wendepunkt in Bad Füssing quält sich der Inn-Radweg an dem aufgestauten Fluss entlang. Auch der Wechsel auf das andere Ufer verschafft auf dem Rückweg kaum Linderung. Einzig die Rast in Burg Frauenstein versöhnt ein wenig. Die üppige Kurtaxe in Bad Füssing ermöglicht mir an diesem Abend den kostenfreien Eintritt in das örtliche Freibad.

Von meinem neuen Stellplatz auf dem Holmernhof aus will ich die Drei-Flüsse-Stadt Passau erreichen. Dabei kalkuliere ich eine hohe Wahrscheinlichkeit ein, diesmal mit der Deutschen Bahn wieder an den Ausgangsort zurückkehren zu können. Zunächst erwartet mich jedoch wieder Tristesse pur. Über fast zwanzig Kilometer zieht sich der Weg auf der Dammkrone, entlang des durch grüne Wildnis verborgenen Inn. Das ändert sich erst in Schärding. Ab hier zwingen die zusammenrückenden Höhenlinien den Fluss in ein enges Tal, das hinter jeder Biegung neue Ansichten bereithält. Die Fahrt gerät auf diesem Teilstück derart kurzweilig, dass ich mich von der jähen Ankunft in Passau fast überrumpelt fühle. Eine kurze Rundfahrt durch die barocke Altstadt bestärkt mich darin, hier einen Tag innezuhalten und mir Passau etwas genauer anzusehen. Während der Rückfahrt mit der Regionalbahn erlebe ich erstmals, dass ein Zug nur hält, wenn man dem „Maschinisten“ die Absicht auszusteigen, persönlich mitteilt.

Für die nächsten zwei Übernachtungen in Passau probiere ich eine neue Variante aus. Mein Ziel ist der Wohnmobilhafen an der Donau. Die Nutzung ist für maximal zwei Nächte kostenlos, allerdings liegt der Stellplatz nicht direkt in Schlagdistanz zur historischen Altstadt. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist aber auch das kein Problem.

Nach der wohltuenden Tour-Unterbrechung sortiere ich mich an einem sonnigen Montagmorgen zunächst in den Berufsverkehr und später in die Kolonne der Donau-Radler ein. Ich bin regelrecht erleichtert, als ich nach einem Übernachtungsstopp im Bootshafen von Racklau, der Donau den Rücken kehren und den Donau-Wald-Radweg unter die Stollenreifen nehmen darf. Die Trasse einer ehemaligen königlich-bayerischen Zahnradbahn lässt mit ihrer zehnprozentigen Steigung allerdings erahnen, dass es ab sofort mit dem beschaulichen Dahingleiten vorbei ist. Die Höhenmeter bis zum Dreiländereck Deutschland-Österreich-Tschechien wollen erarbeitet werden. Angesichts der herrlichen Landschaft mit ihren schattenspenden Wäldern und idyllischen Seen eine in jedem Fall lohnende Mühe. Die rapide abnehmende Siedlungsdichte erfordert jedoch ein vorausschauendes Verpflegungsmanagement, denn mit zunehmender Entfernung zum Touristenstrom werden Geschäfte immer seltener. Zudem gibt es nicht alles überall und auch die fokussierten Öffnungszeiten sind eine Herausforderung.

Sobald sich der Tourenradler im Donauwald aber mit dem hier vorherrschenden Lebensrhythmus synchronisiert hat, kann er die Region und ihre Menschen in vollen Zügen genießen. Dabei ist es unerheblich, ob man sich im Bayerischen Wald, im tschechischen Böhmerwald oder im östereichischem Mühlviertel aufhält. Unterschiedlich ist allenfalls die Sprache. Mein abendliches Lager habe ich vorzugsweise auf Bauernhöfen oder in winzigen Dörfern aufgeschlagen und dabei einen wirkungsvollen Entschleunigungs-Prozess erfahren.

Das Grenzgebirge im Böhmerwald hat vor vielen Jahren der Borkenkäfer gestaltet. Die zahllosen Baumskelette auf den Gipfeln von Lusen, Hoch- und Plöckenstein sind weithin sichtbar. Die Entscheidung, den Wald zur Regeneration einfach sich selbst zu überlassen, war offensichtlich die einzig Richtige. Zwischen dem grauen und verwitterten Totholz hat sich mittlerweile ein artenreicher, junger Baumbestand etabliert.

Für eine Erkundung der Grenzregion im südlichen Böhmerwald habe ich den kleinen Ort Bischofsreut als Basis auserkoren. Für ein geringes Entgelt darf ich mein Reisemobil auf der Wiese des Hotels „Märchenwald“ abstellen und die sanitären Einrichtungen des Hauses benutzen. Außerdem erweist sich die Wirtin als eine ausgezeichnete Köchin. Über den nahen Grenzübergang bei Haidmühle, der ausschließlich Fußgängern und Radfahrern vorbehalten ist, bin ich schnell im tschechischen Nové Údoli. Unmittelbar nach der kleinen Bahnstation mit den Verkaufsbuden für Alkohol und Zigaretten zweigt der Weg zum Schwarzenberger Schwemmkanal ab. Der bereits im 18. Jahrhundert für den Holztransport künstlich angelegte Wasserweg windet sich kurvenreich, durch dichten Wald, Richtung Moldau-Stausee (Lipno). In Nová Pec erreiche ich dessen nordwestlichen Ausläufer und genehmige mir in einer Strandbar ein alkoholfreies tschechisches Bier (B.free). Bezahlen kann man fast überall in Euro, bekommt aber das Wechselgeld in tschechischen Kronen. Dabei ist Vorsicht geboten, denn einige Händler „verrechnen“ sich schon mal zu ihren Gunsten. Besser ist es ein paar Kronen mit sich zu führen. Viel braucht man nicht, denn ein großes Bier zum Beispiel kostet umgerechnet etwa 80 Cent.

Ab Nová Pec folgt die Šumavaská Cyclomagistrála, ein asphaltierter Radweg, der Moldau flussaufwärts. Ohne spürbare Steigung erreiche ich Stozec (dt. Tusset) an der kalten Moldau. Hier gabelt sich die Straße und ich wähle für die Weiterfahrt die Route über České Zleby (dt. Böhmisch Röhren). Ein Blick in die Karte hätte mir verraten, dass dabei auf den letzten zwei Kilometern fast zweihundert Höhenmeter zu erklimmen sind. Oben angekommen präsentiert sich der Ort nur als eine Ansammlung von Gasthäusern. Allerdings eröffnet sich von hier aus einen wahrhaft phantastischer Blick über die grünen Berge des südlichen Böhmerwaldes. Durch den Wald geht es nun über einen ausgewaschenen Weg in Richtung des ehemaligen Grenzstreifens. Ich kreuze den „Iron Curtain Trail“ und überquere die Grenze am alten, verfallenen Übergang bei Bischofsreut. Abends bei einer ausgezeichneten Rindsroulade reift der Entschluss, bei einem weiteren Besuch tiefer in den Nationalpark Šumavá einzutauchen („Das Grüne Rauschen“).

Am folgenden Morgen verlasse ich etwas wehmütig meine „Märchenwald-Basis“ und nähere mich in einem kräftezehrenden Auf und ab dem Nationalpark Bayerischer Wald. In Mauth erreiche ich den Nationalpark-Radweg, der dann aber zusehends an Schrecken verliert. Ohne größere Anstiege rolle ich durch den größten Urwald Deutschlands. Ein Wald der vollkommen sich selbst überlassen ist, der keinerlei wirtschaftliche Nutzung erfährt, hat einen ganz eigenen Charakter. Es ist mehr, als nur umgefallene Bäume, die nicht weggeräumt werden. Es ist schwer zu beschreiben, man muss es einfach erleben.

Zum Zweck der Quartiersuche oder Proviantversorgung muss ich hin und wieder meinen Weg, der fast konstant auf einer Höhe von 800 Metern verläuft, verlassen und tiefer gelegene Orte aufsuchen. Das kostet jedes Mal etwa zweihundert Höhenmeter, die anschließend wieder erklommen werden müssen. Es ist nachvollziehbar, dass ich sorgfältig zwischen meinen grundlegenden Bedürfnissen abzuwägen habe. In Bayerisch Eisenstein biegt der Nationalpark-Radweg nach Osten in Richtung der tschechischen Grenze ab. Ich hingegen will weiter Richtung Norden. Vor mir türmt sich der große Arber auf, mit 1.455 Metern der höchste Berg des Bayerischen- und Böhmerwaldes. Der ostwärtige Sattel mit immerhin noch 1.050 Metern markiert die Grenze zur Oberpfalz. Da muss ich rüber, aber ich werde erst einmal eine Nacht drüber schlafen.

Blick vom Arber-Sattel

Es ist nicht schön, wenn die Tagesetappe sofort mit einer Steigung beginnt. Aber in diesem Fall bleibt mir nichts anderes übrig. 300 Höhenmeter später stehe ich ziemlich ausgelaugt an der Hindenburgkanzel. Vor mir breitet sich das Panorama des nördlichen Bayerischen Waldes aus, das ich im Bewusstsein genießen kann, dass vor mir eine lange, erholsame Abfahrt in die Oberpfalz liegt. Der kleine Campingplatz „Am Fuße des Ossers“ in Lam empfängt mich für die nächsten beiden Übernachtungen.

Der Grünes-Dach-Radweg, an dem ich mich eigentlich orientieren wollte, macht hier in der Oberpfalz einen großen Schwenk nach Westen Richtung Cham. Ich möchte jedoch weiter grenznah unterwegs sein und dabei die kleinen Grenzstädte Furth im Wald und Waldmünchen besuchen. Dazu muss ich jedoch auf die Nutzung von Rad- oder Waldwegen verzichten. Zum Austragungsort des ältesten deutschen Volksschauspiels, dem Further Drachenstich und weiter nach Waldmünchen geht es nur über Landstraßen. Das Ende der heutigen Etappe markiert der Perlsee. Ein ufernaher Stellplatz wird meine nächste Basis-Station.

Als ich am nächsten Morgen starte, weiß ich noch nicht, dass mich die wohl eindrucksvollste Etappe meiner diesjährigen Tour erwartet. Mein Plan ist, westlich der Grenze Richtung Norden zu radeln und auf tschechischer Seite wieder zum Ausgangspunkt in Waldmünchen zurückzukehren. Kurz vor dem Silbersee fädele ich mich auf dem Grünes-Dach-Radweg ein, der mich immer tiefer in die grenznahen Wälder führt. Über Charlottenthal erreiche ich den Flecken Schwarzach, direkt an der Grenze zu Böhmen. Wenn es einen Ort gibt, an dem die Zeit stehen geblieben ist, dann ist er genau hier. Wenige, teilweise verfallene Häuser säumen die schmale Straße, die sich zum alten Zollhäuschen windet. Die Ortschaft, die früher auch jenseits der Grenze einen böhmischen Ortsteil hatte, endet hier abrupt. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen. Etwas zögerlich folge ich der Beschilderung Richtung Rybnik. Auf einer Anhöhe weckt ein Schild mit mehrere Ortsnamen und dem Zusatz „Untergegangenes Dorf“ mein Interesse.

Neugierig geworden verlasse ich das asphaltierte Sträßchen und balanciere den mit Schlaglöchern übersäten Weg Richtung Süden. Es dauert nicht lange, bis am Wegesrand, vom dichten Gestrüpp fast verschluckt, das erste Kreuz auftaucht. Anger ist eines von vielen Dörfern, die nach Kriegsende und Vertreibung der deutschen Bevölkerung, dem Erdboden gleichgemacht wurden. Ich rolle vorbei an weiteren Kreuzen, die den Standort der spurlos verschwundenen Orte Dianahof, Bernstein, Kreuzhütte und Paadorf markieren. Schließlich entdecke ich im Wald einen verfallenen Friedhof. Er gehört zu Grafenried, einem Dorf, das früher aus 42 Häusern, einer Kirche aus dem 18. Jahrhundert und einer Brauerei bestand. Bis 1946 lebten 222 Menschen hier.

Im Rahmen eines deutsch-tschechischen Gemeinschaftsprojektes wurden viele Grundmauern freigelegt und die Überreste der zerstörten Kirchen konserviert. Auf kleinen Tafeln sind Fotografien der Gebäude zu sehen und Wissenswertes über deren Bewohner zu lesen. Hausrat und Gebrauchsgegenstände, die aus dem Schutt geborgen wurden, sind nun auf den alten Fußböden und Mauerresten drapiert. Es ist eine wahrlich beklemmende Atmosphäre.

Nur einen knappen Kilometer weiter überquere ich wieder die Grenze und fahre durch den bayerischen Ort Untergrafenried. So etwa, stelle ich mir vor, könnte heute auch das verschwundene Dorf im Wald hinter mir aussehen. In diesen Gedanken vertieft, kehre ich zu meinem Stellplatz am Perlsee zurück.

Das Wetter hat sich verschlechtert. Der von den Landwirten herbeigesehnte Regen ist nun da. Ich überführe mein Reisemobil in sein nächstes Quartier auf dem Trögerhof in Waidhaus. Im Verlauf meiner diesjährigen Tour haben sich Stellpätze auf Bauernhöfen zu meinen Favoriten entwickelt. Hier ist es schön, nicht zu voll, preiswert und ich schwätze gerne mit dem Bauern oder der Bäuerin. Trotz der Schauer setze ich mich auf mein Rad und fahre Richtung Osten nach Tschechien. Kurz nach der Grenze folge ich dem „Iron-Curtain-Trail“ nach Süden. Bis nach Rybnik rolle ich nur durch menschenleeren, dichten Wald. Zu hören ist nur noch der Wind in den Baumwipfeln und das monotone Prasseln der Regentropfen auf meinem Fahrradhelm. Ich verliere zunehmend das Gefühl für Zeit und Entfernung. Unvermittelt taucht plötzlich eine Wegweisung nach Schwarzach auf. Am Vortag war dieser Ort für mich noch Sinnbild für Abgeschiedenheit, jetzt wirkt er wie das Tor zur Zivilisation.

Auf dem Bocklradweg, einer ehemaligen Bahntrasse fahre ich wieder Richtung Norden, zurück zu meinem Basislager auf dem Trägerhof. Es regnet mittlerweile in Strömen und meine Schutzbekleidung beginnt zu versagen. Die Wetterprognose für die kommenden Tage ist schlecht. So ist es in diesem Jahr erneut der Regen, der meine Episode beschließt.

Stellplatz auf dem Trägerhof in Waidhaus

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